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Im Wartesaal

Man hat uns auf die Schienen gestellt und angebunden. Irgendwann, das ist uns klar, kommt der ICE. Damit wir nicht völlig durchdrehen, nennen diejenigen von uns, die bereit sind die Gefährlichkeit der Situation anzuerkennen, das ganze Arrangement „Wartesaal“. Wenn wir Glück haben, regnet’s wenigstens nicht. Wenn wir noch mehr Glück haben, entgleist der ICE über den vielen Leichen, bevor er auch uns in den Tod reißt. Wir sind die Zyniker.

Der Rest weigert sich entweder, Schienen und Fesseln als Realität anzuerkennen, oder flüchtet sich mangels besserer Alternativen in religiösen Wahnsinn.

Wovon ich rede?

Die „Große Rezession“, wie Paul Krugman sie nennt, ist gerade einmal 5 Jahre her. Viele, ich eingeschlossen, haben damals gehofft, es würde sich etwas Grundlegendes ändern. Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass die Regierungen der Welt eine solche, beim nächsten Mal tödliche Bedrohung für die soziale Balance der Welt gar nicht erst ernsthaft angehen würden. Jeder kann sich ausrechnen, dass der haushaltspolitische Gewaltakt, der 2008 vonnöten war, um eine zweite Depression zu verhindern, nicht noch einmal gestemmt werden kann. Oder zumindest nicht, ohne andere, wahrscheinlich ebenso furchtbare wirtschaftliche Verwerfungen zu verursachen, wie dies eine Depression täte.

Was müssen sich die Blutsauger an den Börsen und in den Chefetagen der von unseren Steuern geretteten Banken damals in die ihre Geldscheine umklammernden Fäustchen gelacht haben. Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ fehlt die Szene, in der Biedermann die Brandstifter erst aus dem Gefängnis freikauft, damit sie seine Stadt anzünden können. Auch Frisch wäre ein solches Szenario wohl als zu absurd vorgekommen.

Aber eine vollständig von betriebswirtschaftlichen Partikularinteressen unterwanderte Weltwirtschaft und -politik trug wohl damals schon eine zu hohe Virenlast an Lobbyismus und Hirnverkleisterung, um wirklich gesunden zu können. 5 Jahre später ist das Fieber in Form absurd überhöhter Börsenkurse längst wieder da und schlägt fröhliche Spekulationsblasen, die Geschwüre auf der Haut der Menschheit. Es wird in Börsen und Politik sinnlos das eigene Geld geschwängert statt Verteilungsgerechtigkeit geschaffen. Es wird hirnentkernt in eine Nachfrageschwäche hineinproduziert, -optioniert, -spekuliert, -oligopolisiert und finanzpolitisch masturbiert, weil der Durchschnittsanalyst in seinen acht Semestern Betriebswirtschaft die Voodoo-Ökonomie der österreichischen Schule als alternativlos, wissenschaftlich bewiesen und unvermeidlich hat hingelogen bekommen – und dies in Ermangelung eines wissenschaftlichen Interesses auch gerne glaubt. Logo, macht ihn ja reich!

Es wird gleichzeitig versäumt, die eigentlich wichtigen Entscheidungen für die Zukunft zu treffen: die globale Erwärmung und ihre Folgen abzufedern, die Überbevölkerung in den Griff zu bekommen, die nachhaltige Entwicklung der emerging economies anzuschieben und zu unterstützen und die Generationengerechtigkeit in den old economies anzustreben. Statt auch nur eines dieser Themen anzugehen, wird die Verteilungsschere immer weiter aufgerissen: 40% aller Menschen in Deutschland verdienen bei einer 40 Stunden-Woche nicht genug, um ihre Alterssicherung über die Armutsgrenze zu wuppen. Das sind keine Sozialschmarotzer! Das sind nicht mal Arbeitslose. Das sind Menschen, denen die Würde geraubt wurde, sich aus eigener Kraft ernähren und kleiden zu können!

All diese ungelösten Probleme werden uns allen mit Wucht auf die Füße fallen, weil wir es nicht geschafft haben und voraussichtlich auch nicht schaffen werden, den Vampiren die Zähne zu ziehen, den Kopf abzuschlagen und einen Holzpflock durchs eiskalte Herz zu treiben.

Dies sind die Adeligen unserer Zeit: genauso faul, verlogen, vor lauter Zynismus strohdumm und bereit, Millionen in den Ruin zu schicken für das eigene Penthouse in der Londoner City. Ich möchte ausdrücklich festhalten, dass mir der Gedanke absolut nicht gefällt, weil mir jede Form der Gewalt zuwider ist: aber wenn nicht noch ein Wunder geschieht, dann werden diese Menschen da enden, wo auch der russische Adel endete. Und genau wie dem russischen Adel wird ihnen niemand eine Träne nachweinen.

Allerdings, und das ist das eigentlich Tragische, werden vorher viele Millionen von Menschen an diesen Blutsaugern zu Grunde gehen. Es werden Staaten scheitern, faschistische Systeme fröhliche Urständ in Europa feiern und Bürgerkriege (ALLE Kriege sind letzten Endes Bürgerkriege) ausbrechen und jahrelang wüten, bevor sie ermüden und ersaufen in ihrem eigenen Blut. Und dann erst, wenn auch das letzte Feindbild, das sich die oberen 0,01% für viel Geld von irgendeiner Politmarketingagentur haben zusammenlügen und durch die ihnen gehörenden Massenmedien verbreiten lassen, wenn auch dieses dann nicht mehr funktioniert: Dann werden sie hängen und dabei wahrscheinlich ganz erstaunt und selbstmitleidig aus der Wäsche kucken. Und ihr vollständig virtueller Reichtum, all das Buchgeld, das sowieso nur auf Festplatten existiert, wird schlagartig verschwunden sein, weil das bizarre System, das ihm Wert gibt, verschwunden sein wird und all den vielen Stellen vor dem Komma keine nennenswerte Produktion mehr gegenüber steht. Dies wird die Stunde Null sein – und sie wird keine Party.

Das ist es nicht wert. Vielleicht hilft es, jedem Investment-Banker (nein, ich spreche nicht vom Schalterbeamten in der Sparkasse), Analysten, Berater und wie das Geschmeiß sich sonst noch nennt, heute schon seine persönliche Abscheu ins Gesicht zu sagen. Ihm klar zu machen, dass er ein Blutsauger ist und all sein Geld geraubt von Menschen, die sich nicht wehren können, weil das Geld längst das Ergebnis demokratischer Wahlen auslacht. Viel mehr kann man wahrscheinlich nicht tun. Aber das zumindest sollte man. Erst wenn Eltern ihren Kindern raten, lieber auf den Strich zu gehen als sich diesem Gesocks anzuschließen, erst dann hat diese Welt wieder eine Chance. Wenn Politiker die Lobbyisten aus dem Bannkreis der Parlamente entfernen, weil sie sich nach frischer Luft sehnen, dann hat diese Welt wieder eine Chance. Erst wenn es den sowieso schon Reichen zuwider wird, in den Spiegel zu schauen, wenn sie nicht schon vor dem Rasieren wenigstens einen ihrer Lobbyisten entlassen, ein wirklich uneigennütziges Entwicklungsprojekt in der 3. Welt finanziert und ernsthaft eine Steuererhöhung für sich selbst gefordert haben, dann hat diese Welt wieder eine Chance.

Um das klar zu stellen: Die Welt, die es zu retten gilt, ist weit davon entfernt ist, perfekt zu sein. Aber sie ist 1000 Mal lebenswerter als alles, was die Zukunft für uns und unsere Kinder bereit hält. Die normative Kraft des Geldes ist völlig aus dem Ruder gelaufen, hat unsere Demokratien vernichtet und wendet sich jetzt der Überlebensfähigkeit der humanistischen Gesellschaften an sich zu. Ihr ist es egal, wenn sie an der nachfolgenden Barbarei selbst zu Grunde geht. Denn sie hat kein Gewissen und kein Wissen um die Zukunft.

Wir aber!

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