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Ethik als Spielmechanik#1: Wer spielt da eigentlich?

(Dies ist die erste Folge einer kleinen Artikelserie über die Frage, wie man sich Ethik als Spielmechanismus verfügbar machen kann. Nachdem die Serie auch in überarbeiteter Fassung in der Printversion der Making Games und dann, ins Englische übersetzt, auf deren Webseite erschienen ist, habe ich die ursprünglichen Fassungen auch hier mit den überarbeiteten ersetzt. Zum zweiten Teil geht es hier. Zum dritten hier.)

Im Herbst 2014 wurde ich von der Mediadesign Hochschule (MD.H) in München eingeladen, eine Vorlesung zum Thema “Ethische und soziale Aspekte” abzuhalten. Ich weiß bis heute zwar nicht, ob ich das Thema so interpretiert habe, wie die MD.H sich das vorgestellt hat, aber zumindest habe ich die Gelegenheit genutzt, mich einmal auf halbwegs wissenschaftlichem Fundament mit einer Reihe von Fragen zu beschäftigen:

  • Wie gerät Ethik eigentlich in ein Game hinein?
  • Was hat sie da verloren?
  • Und wenn man sie möglicherweise nicht vermeiden kann: Kann man sie sich vielleicht sogar zu Nutze machen?

Um es direkt zu sagen: Die Antworten, die ich fand, haben meinen Blick auf Gamedesign – und hier speziell auf das Design von Story innerhalb eines Games – massiv erweitert und teilweise fundamental verändert. Ich will sie im Folgenden erläutern.

Der zu Grunde liegende wissenschaftliche Diskurs ist nicht einfach und greift unter anderem tief in die Werkzeugkisten von Psychologie und Hermeneutik. Ich werde versuchen, ihn so tief nachzuvollziehen, wie es zum Verständnis des Themas notwendig ist – und dabei so flach zu halten, dass möglichst viele Menschen zu Ende lesen können, ohne sich eine schwere Hirnmuskelzerrung zuzuziehen. Psychologen und Philosophen mögen sich dann wegen unzulässiger Vereinfachungen die Haare raufen: Mir geht es um Wichtigeres, nämlich bessere Games. Und die bedeuten eine bessere Welt. Fragt nach bei Schiller.

Meine stark verkürzte Hauptthese ist: Spiele sind wie keine andere Kunstform dazu prädestiniert, als ethisches Fitnesszentrum zu wirken – und wenn sie diese Chance nutzen, werden sie in der Regel sogar bessere Games: herausfordernder, interessanter, kurz: spaßiger.

Dabei gilt es, von vornherein ein paar Missverständnisse auszuräumen sowie ein paar Axiome einzurammen:

  • Ein ethisches Spiel ist meistens nicht das Spiel, das uns eine vorgegebene Dichotomie von Gut und Böse nachspielen lässt und uns dabei schlimmstenfalls sogar die Bewertung abnimmt, was jetzt genau gut und was böse ist. Ein ethisches Gamedesign nimmt den Spieler als Wesen mit einer bereits altersgemäß entwickelten Ethik ernst und überlässt ihm die Entscheidung.
  • Ein ethisches Spiel ist deshalb auch in keinem Fall das Spiel, das seine Spieler als Moralsäuglinge behandelt. Es stellt den Spieler vor ethische Herausforderungen, genauso wie es ihn vor motorische, exploratorische, strategische oder logische Herausforderungen stellt.
  • Die rein abstrakte Spielmechanik kann keine Ethik erzeugen. Ethische Herausforderungen entstehen erst durch ihre Abbildung in der Spielwelt (und hier insbesondere durch Story) – und durch die mediale Auseinandersetzung des Spielers mit derselben.
  • Umgekehrt aber kann durch eine ethische Herausforderung Spielmechanik erzeugt werden. Diese ist dann aber nie abstrakt, sondern entsteht aus dem Konflikt im Kopf des Spielers als ganz konkrete Herausforderung in der Spielwelt.

Wir reden also beim Thema Ethik in Games nicht von erhobenen Zeigefingern sondern von einer zusätzlichen Möglichkeit, den Spieler vor interessante Herausforderungen zu stellen. Dies streift natürlich auch die Gewaltdiskussion um Computerspiele, die erst jüngst um den aparten Vorwurf bereichert wurde, First Person Shooter seien für den modernen Terrorismus zumindest mitverantwortlich.[1] Die wissenschaftliche Betrachtung allerdings tritt den selbsternannten Moralaposteln in Presse, Funk und Fernsehen deftig von hinten in die Kniekehlen:

Es ist allgemein akzeptiert, dass den Fähigkeiten des Spielers angepasste Herausforderungen des Computerspiels di entsprechenden Fähigkeiten der Spieler fördern. Man fand beispielsweise heraus, dass Menschen, die viel spielen, schneller bessere Chirurgen werden.[2] Nur, wenn der Spieler vor ethische Herausforderungen gestellt wird, geht ein Teil der Öffentlichkeit nach wie vor von allgemeiner Wehr- und Schutzlosigkeit aus, obwohl die These, dass es sich bei Spielern um moralische “Zombies”[3] handelt, durch zahlreiche Studien [4], [5], [6] als extrem zweifelhaft bis offenkundig widerlegt gelten kann. Spieler zeigen maximal sehr kurzfristig gesteigerte Aggressionen und – abhängig vom Spielziel – zum Teil sogar eine Verringerung des aggressiven Potenzials. Dafür gibt es Gründe, die weiter unten klarer werden.

Deshalb hier noch einmal ganz deutlich: Ethische Herausforderungen im Gamedesign schulen die Ethik des Spielers, zumindest solange diese Herausforderung keine Überforderung darstellen, wie es wahrscheinlich der Fall ist, wenn ein Spiel wie Manhunt von einem Achtjährigen gespielt wird.

Es wäre natürlich Unfug jetzt so zu tun, als wäre das Konzept ethischer Herausforderung in Spielen völlig neu. Es gibt solche Mechaniken schon lange, und die Ergebnisse werden in der Regel auch von der Öffentlichkeit mit Wohlwollen verfolgt. Sei es Spec Ops – The Line, This War of Mine, Papers, please!, GTA oder bereits viel früher Bioshock oder Manhunt, um nur einige der sichtbarsten Exemplare zu nennen. Jeder hat schon Spiele gespielt, in denen er vor ethische Dilemmata gestellt wurde. Dilemmata, die man (sonst wären es keine Dilemmata) nicht befriedigend auflösen konnte, die man aushalten musste – oder die einen sogar dazu gebracht haben, mit dem Spiel aufzuhören. Ich werde versuchen darzulegen, warum diese Spiele dadurch nicht unethisch werden – und warum sie vielleicht gerade deshalb herausragende Games sind.

Als Erstes wäre aber natürlich mal eine Frage zu klären:

Was ist das eigentlich: Ethik, und was hat sie in Games verloren?

Die Ethik, weiß die Wikipedia, “ist jener Teilbereich der Philosophie, der sich mit den Voraussetzungen und Kriterien rationalen menschlichen Handelns befasst. Im Zentrum der Ethik steht das spezifisch moralische Handeln, insbesondere hinsichtlich seiner Begründbarkeit und Reflexion.”[7]

Wenn wir also von Ethik im Spiel reden, ist sofort klar, dass die Ethik der Spielwelt nicht in unserer Welt begründbar sein muss. Sie muss in der virtuellen Gegenwelt, die wir als Designer konstruieren, rational sein und dort moralisches Handeln begründen, nicht in unserer Welt.

Und weil es eine Gegenwelt ist, kann moralisches Handeln in dieser Welt naturgemäß ganz anders aussehen als in unserer. Genauso, wie in Spielen gelegentlich die Gesetze der Physik anders verlaufen als in unserer Welt (Lichtschwerter? Im Ernst?), können auch die Gesetze menschlichen Zusammenlebens anders lauten. Sie werden dadurch nicht unethisch. Ganz im Gegenteil kann man sogar sagen, dass die vollständige, kritiklose Übernahme diesweltlicher Ethik in eine Gegenwelt unethisches Gamedesign hervorbringen kann, weil im Laufe des Designprozesses zumindest geprüft werden muss, ob diesweltliche rationale Gründe in der Gegenwelt nicht irrational werden.

Als Gamedesigner sind wir es gewohnt, Mode, Gebrauchsgegenstände, Waffen, Technologie, Flora und Fauna sowie das Interface und Dutzende andere Dinge den gegenweltlichen Gegebenheiten anzupassen. Es gibt keinen einzigen guten Grund, dasselbe ausgerechnet mit den Grundregeln nicht zu tun, nach denen dort Gesellschaft funktioniert. Zumindest dann nicht, wenn wir handelnde Charaktere haben (Tetris hat keine Ethik, da es seine Spielmechanik beinahe vollständig abstrakt hält und so gut wie nicht narrativiert). Denn was soll die Handlungen der Charaktere begründen, wenn nicht ihre eigene, ja meist fehlerhafte Ethik? (Die Ethik jedes einzelnen ist fehlerhaft durch irrationale Brüche, die aus dem ES des Charakters entspringen. Sogar, wenn er ein Gott ist. Vor allem, wenn er ein Gott ist!)

Was soll eine Handlung begründen, eine Story, wenn nicht die jeder Ethik innewohnenden Konflikte zwischen ES, ICH und ÜBER-ICH, zwischen Eigen- und Gesellschaftsinteresse, zwischen Ratio und Religio? Und was soll für den Spieler eine ethische Herausforderung begründen, wenn nicht der Konflikt zwischen diesweltlicher und gegenweltlicher Ethik?

Es ist bei der Betrachtung dieser Fragen aber auch notwendig, ein bisschen genauer zu verstehen, wie die Beziehung zwischen Spieler und Computerspiel überhaupt aussieht. Wie entsteht sie? Was unterscheidet diese Beziehung möglicherweise von unserer Beziehung zur wirklichen Welt? Warum können wir uns auf ethische Systeme in Gegenwelten einlassen, die unseren teilweise diametral entgegenstehen, ohne von diesen Konflikten traumatisiert zu werden? Die Antwort ist überraschend einfach:

Der Spieler ist nicht der Spieler!

Der Mensch tritt nicht mit Leib und Seele in die Gegenwelt eines Computerspiels ein. Zumindest der Leib bleibt im Hier und Jetzt. Und auch ein Teil der Synapsen des Gehirns ist nach wie vor mit diesweltlichen Problemen beschäftigt: Diverse Körperfunktionen müssen gesteuert werden, Gehör und andere Sensorik sind zumindest teilweise noch aktiv und auf die Wirklichkeit gerichtet. Was dem Spiel gegenübertritt ist also etwas anderes, als der Spieler selbst. Es ist eine Teilmenge von uns. Und es ist eine Teilmenge, die ihrer eigenen Agenda folgt.

In Miguel Sicarts hochinteressanter, wenn auch nicht immer 100% folgerichtigen Arbeit “The Ethics of Computer Games” wird diese Teilmenge des Spielers das “player subject” genannt: “Becoming a player is the act of creating a balance between fidelity to the game situation and the fact that the player as subject is only a subset of a cultural and moral being who voluntarily plays, bringing to the game a presence of culture and values that also affect the experience.”[8]

Für uns als Gamedesigner ist es wichtig zu beachten, dass sowohl der kulturelle Hintergrund als auch die moralischen Bewertungen der einzelnen Spieler so unterschiedlich voneinander sein können, wie es die Spieler in einem globalen Markt sind. Wo der eine Spieler kein Problem hat, in GTA V einen NPC zu foltern, schalten andere das Spiel an dieser Stelle aus. Not every game is for every player. Dies macht weder einen der beiden Spieler zum besseren Menschen noch GTA V unethisch. Als Gamedesigner haben wir aber ein natürliches Interesse daran, den Spieler bei der Stange zu halten (es gibt Ausnahmen, auf die ich in den späteren Teilen noch eingehen werde). Der Umstand sollte uns als Designern also bewusst sein.

Für das Thema ist dieser Umstand aber noch aus anderen Gründen interessant: In dem Moment, in dem der Spieler aufhört zu spielen, hört auch dieses Spielersubjekt auf zu existieren. Das Wesen, das in einer Gegenwelt möglicherweise Taten verübt hat, die ihm in dieser Welt sofort Sicherheitsverwahrung einbrächten, verblasst in wenigen Minuten vollständig. Und eventuelle Effekte auf das Aggressionspotenzial des Spielers, egal in welcher Richtung, verblassen mit ihm. Was bleibt, ist die Erinnerung an dieses Wesen im Spieler. Und für den Fall, dass die ethischen Konflikte wirklich aufwühlend waren (und der Spieler reif genug ihnen zu begegnen), auch eine gedankliche Auseinandersetzung mit den Handlungen des player subjects. Aus Affekt wird Reflektion: ein ethischer Trainingseffekt.

Und (dies – großes Ehrenwort – ist der letzte Exkurs in die Gewaltdiskussion) nur schwer kranke Menschen werden in der Reflektion zu dem Schluss kommen, dass es auch in dieser Welt in Ordnung ist, mit einer Knarre durch die Gegend zu laufen und wahllos Menschen zu erschießen. Zu dieser Erkenntnis benötigen sie aber kein Computerspiel, wie der Umstand zeigt, dass es Amokläufe auch schon vor der Erfindung des First Person Shooters gab.

Die wichtigste Erkenntnis für uns als Gamedesigner aber ist: Der eigentliche ethische Konflikt entsteht im player subject, das verschieden vom Spieler ist. Ethische Herausforderungen im Spiel sind also gegenüber dem Spieler instanziiert, werden in Stellvertretung erlebt und durchlitten – und das erlaubt uns, ein wenig an der Zumutbarkeitsschraube zu drehen.

Der ludische hermeneutische Zirkel

Es gehören noch andere Elemente zu dieser Reflektion: Die Community des Spiels, die aus Presse, Foren, Freundeskreis und jeder Form der öffentlichen Rezeption eines Spiels besteht, nimmt zu Recht einen nicht unbedeutenden Teil in der Definition des ludischen hermeneutischen Zirkels bei Sicart ein. [9]

ludic_hermeneutic_circle

Bild 1: Ludischer hermeneutischer Zirkel nach Sicart

Dieser Zirkel, der beschreibt, wie ein Spiel rezipiert und verarbeitet wird, ist in Wahrheit natürlich eine Spirale, weil die Rezeption eines Spiels nicht endet, nachdem man es einmal reflektiert hat. Das Erkennen des Spiels hat sich lediglich auf eine höhere Ebene verlagert.

Interessant ist dabei der von Sicart verwendete Begriff der ludic phronesis. Phronese (es existiert auf Wikipedia noch kein deutscher Artikel dazu. Wer sich berufen fühlt, darf dies gerne als Aufforderung begreifen …) ist ein Begriff aus der Aristotelischen Ethik und meint die praktische Weisheit, den gesunden, aus der Erfahrung heraus geborenen Menschenverstand.

Dieser ist natürlich ein anderer, wenn er (für das player subject) aus Spielregeln erwächst, als wenn er sich im Diesweltlichen bildet, für das ja ganz andere Regeln gelten. Entsprechend unterscheidet sich die ludische dann natürlich auch von der diesweltlichen Phronese. Sprich: Was in der Spielwelt vollkommen logisch, vernünftig und ethisch korrekt sein kann, muss dies in unserer Welt nicht sein.

Dennoch ist aber im Spieler natürlich immer die alltägliche Phronese vorhanden, und sie lässt sich auch nicht vollkommen ausschalten. Sobald die ludische Phronese also mit unserer alltäglichen in Konflikt gerät, finden wir eine Situation vor, die uns herausfordert. Einen innerhalb der Spielwelt moralisch integren Menschen wird diese Herausforderung außerdem interessieren (Nicht verwechseln: Man kann innerhalb der Spielwelt moralisch nicht integer sein – aber im Diesweltlichen der integerste Mensch der Welt – und umgekehrt). Das Resultat ist also eine interessante Herausforderung – und genau das ist es, was wir als Gamedesigner (ich betrachte Storydesigner, denn die betrifft diese Erkenntnis in erster Linie, hier als spezialisierte Gamedesigner) erschaffen wollen.

Aus der Ménage-à-trois zwischen Spieler, Spielersubjekt und Spiel können also Herausforderungen entstehen, die wir als Gamedesigner nutzen können, das Spielerlebnis interessanter zu gestalten. In der Art, wie diese Dinge zu konstruieren sind, unterscheiden sie sich massiv von den uns vertrauten Spielmechaniken Logik, Strategie und Motorik. Im Ergebnis können sie aber genauso wirkungsvoll sein.

Der nächste Teil dieser Serie wird sich dann daran versuchen zu erläutern, wie man vom Erkennen des Potenzials, das Ethik als Gamedesignziel hat, zu konkreten Designparametern kommt, an denen man spielerisch gutes ethisches Gamedesign erkennt.

 

Hier geht’s zu Teil 2

 

Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/terror-und-mediengesellschaft-naechste-runde-paradies-13376331.html

[2] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17309970

[3] Sicart, The Ethics of Computer Games, Massachusetts Institute of Technology, 2009, p.10

[4] http://www.independent.co.uk/life-style/gadgets-and-tech/gaming/longterm-us-study-finds-no-links-between-violent-video-games-and-youth-violence-9851613.html

[5] http://www.gamespot.com/articles/violent-video-games-dont-lead-to-increases-in-viol/1100-6422421/

[6] http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/ab.21487/abstract

[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Ethik

[8] a.a.O., p. 63

[9] a.a.O., p. 122

 

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