In einer inoffiziellen Facebookgruppe der deutschen Spielindustrie kam es heute zu einer weitestgehend zivil verlaufenen Auseinandersetzung um die Frage: Ist Kulturkritik an Spielen erlaubt, bzw. was – wenn überhaupt – ist an der Argumentation „ist nur ein Spiel“ falsch. Das Ganze entzündete sich an dem Spiel „The Division“, und natürlich ging es sehr bald um die (von mir ja durchaus auch mit Absicht ins Spiel gebrachte) Frage, ob The Division jetzt ein reaktionäres Machwerk sei oder nicht.
Diese Frage allerdings will ich hier mal beiseite lassen (obwohl mir eine Behandlung derselben sicher mehr Hits einbrächte). Ich will mich stattdessen daran versuchen auseinanderzuklamüsern, worum es bei der Frage der Kulturkritik an Spielen überhaupt geht – und warum wir diese neue Form der Kritik an unseren Lieblingen umarmen sollten.
Dazu ist es erst einmal notwendig, ein paar Begriffe zu klären, damit nicht, wie in obiger Facebook-Diskussion, alles durcheinander geworfen wird. Das erste, was in einer solchen Diskussion gerne zusammengerührt wird, sind die beiden Begriffe „Kultur“ und „Kunst“. Die Wikipedia-Definition von Kultur ist (Stand 18.03.2016):
Kultur (von lateinisch cultura ‚Bearbeitung‘, ‚Pflege‘, ‚Ackerbau‘) bezeichnet im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt, im Unterschied zu der von ihm nicht geschaffenen und nicht veränderten Natur. Kulturleistungen sind alle formenden Umgestaltungen eines gegebenen Materials, wie in der Technik oder der bildenden Kunst, aber auch geistige Gebilde wie Musik, Sprachen, Moral, Religion, Recht, Wirtschaft und Wissenschaft.
Es geht also ganz allgemein nur um die Frage, ob etwas natürlich gewachsen ist – oder künstlich erschaffen wurde. Kunst hingegen meint etwas durchaus anderes:
Das Wort Kunst bezeichnet im weitesten Sinne jede entwickelte Tätigkeit, die auf Wissen, Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition gegründet ist (Heilkunst, Kunst der freien Rede). Im engeren Sinne werden damit Ergebnisse gezielter menschlicher Tätigkeit benannt, die nicht eindeutig durch Funktionen festgelegt sind. Kunst ist ein menschliches Kulturprodukt, das Ergebnis eines kreativen Prozesses.[1]
Wenn wir Spiele und Kunst in Verbindung bringen, dann meinen wir offenkundig Spiele, „die nicht eindeutig durch Funktionen festgelegt sind“. Sprich: deren Wirkung für den Spieler über das rein Mechanische und Narrative hinausgehen. Kunst ist immer ein Produkt der Kultur, aber nicht alles, was Kultur ist, ist auch Kunst, sonst wäre die Tastatur, die ich gerade benutze, ein Kunstwerk.
Im folgenden wird aber ausschließlich über Spiele als Kulturgut geredet, und nicht über Spiele als Kunstwerke.
Seit 2008 sind Computerspiele in Deutschland offiziell Kulturgut. Und nein, das erhebt sie noch nicht automatisch zum Kunstgegenstand. In dieser Anerkennung läge – würde man nur der Wikipedia-Definition folgen – eigentlich nur die Erkenntnis, das Spiele nicht unter freiem Himmel wachsen. Tatsächlich bedeutet sie mehr. Sie bedeutet die Anerkennung als schöpferische Leistung, der zumindest die Möglichkeit innewohnt, Kunst zu sein. Letzteres ist nett, aber auch wieder im Folgenden höchstens am Rande wichtig.
Entscheidend ist hier zunächst mal, wer die Entscheidung zu treffen hat, ob ein Spiel als Kulturgut (im schöpferischen Sinne) zu gelten hat: Dies sind nämlich nicht die Entwickler, die Publisher oder die Spieler. Es ist eine Entscheidung, die mehr oder weniger per appelationem durch die Gesamtgesellschaft getroffen wird: einer schreibt eine Kritik – und die Gesellschaft reagiert darauf. Und natürlich gibt es keinen Weg und kein Recht, dieses Diskussion dann noch aufzuhalten. Irgendwann ist das Verdikt draußen, und wenn das Spiel tatsächlich langfristig Bedeutung gewinnt, dann wird man diese Diskussion immer wieder mal führen – und die Bewertung neu justieren.
Irgendwann einmal begannen Spiele im Feuilleton aufzutauchen. Ich erinnere mich an eine Besprechung von „Myst“ im Print-Spiegel. Das war 1993 oder so. Und natürlich war das Computerspiel an sich bereits damals (und spätestens damit) Kulturgut, hatte es doch den Beweis erbracht, zur öffentlichen Diskussion im Rahmen einer ernsthaften Kulturkritik geeignet zu sein. Und kaum 15 Jahre später hat es der Bundestag dann auch erkannt.
Wobei auch hier noch einmal darauf hingewiesen sei: Kulturkritik ist nicht gleich Kunstkritik. Letztere setzt sich mit den ästhetischen Mitteln auseinander, mit denen eine Werk mit Kunstanspruch diesen erfüllt oder daran scheitert. Erstere ordnet das Werk in seinen kulturellen Zusammenhang ein, ohne dass ein Kunstanspruch vorliegen muss. Wenn etwas nur reine Unterhaltung sein will, dann ist das kein Hinderungsgrund, es kulturkritisch zu betrachten.
Dabei arbeiten Kunst- und Kulturkritik allerdings mit ähnlichen Mitteln. Worin sie sich unterscheiden sind die Bewertungskriterien. Letzten Endes geht es darum, die kreativen Mittel zu identifizieren, ihre Anwendung zu analysieren, einen möglichen gesellschaftlichen Kontext zu erkennen und einzuordnen und dann das Urteil zu fällen: Wie ist die kreative Arbeit im gesellschaftlichen Rahmen einzuordnen. Dass bei diesem Urteil natürlich auch immer das Weltbild des Rezensenten mitspielt, ist erstens eine Binsenweisheit und zweitens kein Grund, eine Kulturkritik per se als lediglich dem persönlichen Geschmack des Autors entsprungen abzutun. Zumindest dann nicht, wenn dieser – siehe oben – sich seines Handwerkszeugs korrekt bedient.
Kulturkritik, so bleibt jetzt erst einmal summarisch festzuhalten, handelt also nicht notwendigerweise von Kunst, fordert ein bestimmtes Handwerkszeug ein, und es obliegt nicht dem Kulturgegenstand oder seinem Produzenten zu entscheiden, ob jener zum Gegenstand der Kulturkritik wird oder nicht. Sobald eine Gesellschaft eine kreative Arbeit als würdig erachtet, beginnt sie mit der Kulturkritik, ob einem das passt oder nicht.
Nun ist es so, dass in der Spielebranche eigentlich rundheraus bejubelt wurde, als Spiele der Status eines Kulturgutes zuerkannt wurde. Was einigen dabei nicht so klar gewesen zu sein scheint: Dass diese öffentliche Anerkennung intellektuelle Arbeit nach sich ziehen wird. Denn natürlich stehen Spiele, die sich ja auch gerne (und mit einigem Recht) als Leitmedium dieses Jahrhunderts bezeichnen lassen, damit noch wesentlich mehr ins Zentrum der öffentlichen Betrachtung.
Der Status als Kulturgut hat also auf der einen Seite das Recht mit sich gebracht, ernsthaft und mit intellektueller Ehrlichkeit und Akribie betrachtet zu werden – und auf der anderen Seite wird man jetzt zum Leidwesen so mancher Entwickler und Spieler (teilweise) intellektuell ehrlich und mit Akribie betrachtet. Das Ergebnis fällt halt nicht immer so aus, wie man das gerne hätte. Das ist hart, vor allem wenn es ein Spiel betrifft, das man gerne spielt oder an dem man mit Herzblut gearbeitet oder in das man viel Geld investiert hat. Ich persönlich kenne das seit den 70er Jahren, als meine beiden Lieblingsbands ständig Verrisse in der Kulturkritik für ihre Alben sammelten: war nicht nett – und auch nicht immer richtig. Eine der Bands hieß Led Zeppelin. Kulturkritik kann natürlich auch irren.
Jetzt kann ich mich als Entwickler, Spieler, Publisher oder wer auch immer natürlich dazu entschließen, den kulturkritischen Diskurs um ein Spiel einfach zu ignorieren. Das ist vollkommen legitim. Ich kann mir sagen: „Ist nur ein Spiel“ – und damit leben. Niemand wird schon dadurch zum schlechteren Menschen, weil er sich einem kulturkritischen Diskurs nicht stellt (man bleibt vielleicht auf die Dauer kritiktechnisch ein bisschen hinten dran – aber das ist keine moralische Kategorie. Im Gegenteil: Wo kämen wir hin, wenn in Deutschland nur noch lauter Kritikergötter rumliefen). Was ich aber nicht tun darf: Diesen Satz „ist nur ein Spiel“ dazu einzusetzen, den kulturkritischen Diskurs zu diskreditieren und/oder als unnötig hinzustellen und so versuchen ihn abzuwürgen.
Also: Der Satz „Für mich ist das nur ein Spiel“ ist vollkommen legitim. Der Satz „Für mich ist das nur ein Spiel und deshalb braucht es dazu auch keinen öffentlichen Diskurs“ ist es aus den gleichen Gründen nicht, aus denen es prinzipiell keine Denkverbote geben sollte. Die Gedanken sind frei. Und man darf sie äußern.
So unbequem dieser Diskurs ist, wir sollten ihn umarmen, ihn annehmen und seine Regeln erlernen. Unsere Spiele werden besser, wenn Entwickler sich nicht mehr einfach rausreden können, dass ihr Spiel zwar politische Statements setzt, diese aber nicht ernstzunehmen sind, weil „ist ja nur ein Spiel“. Denn ein politisches Statement, das keine sonstigen Auswirkung auf die Gesamtästhetik des Spiels haben möchte, unterliegt sowieso qua Definition einer ludo-narrativen Dissonanz. Es beschädigt das Spiel als Spiel. Wenn es uns also nur um das Spiel geht: Warum ist dieses Statement dann drin? Als bloßer Effekt? Als faule Ausrede für das Narrativum? Gebt euch, bitte, mehr Mühe!
Wenn dieses Statement aber mit der Gesamtästhetik des Spiels verschmilzt, also keine ludo-narrative Dissonanz entsteht, dann arbeitet das politische Statement mit den Spielmechanismen zusammen. Dies kann geschehen wie in Papers, please!, in dem die politischen Regeln der Spielwelt mich unaufhaltsam in ethische Dilemmata führen, oder wie in einer Wirtschaftssimulation, in der bestimmte wirtschaftliche Parameter das Überleben meiner Siedlung bestimmen, ohne mich groß in moralische Probleme zu stoßen (Die Siedler 2) oder eben doch (Banished). Es kann vielleicht sogar geschehen wie in The Division (das Verdikt ist – siehe nächsten Absatz – noch nicht raus). Nur eines kann nicht geschehen: dass diese Einbindung dann nicht kulturkritisch relevant und diskutabel ist.
Es gibt, wie man an diesen Beispielen sieht, auch keine einfache PI mal Daumen-Möglichkeit, diese Spiele kulturkritisch zu bewerten – und schon gar nicht darf man es sich einfach machen, sie politisch zu verdammen oder ihren Entwicklern gar sinistre politische Absichten zu unterstellen. Ja, ich habe geschrieben, dass es gute Gründe gibt, The Division als reaktionäres und totalitäres Werk zu verurteilen. Das heißt noch nicht, dass mein finales Verdikt dann auch genauso ausfällt. Kann sein, dass sich auch für die Gegenposition noch gute Gründe finden. Kann sein, dass die Nachwelt es irgendwann ganz anders sieht. Kritik aktuellen Kulturschaffens ist Standortbestimmung des Werkes im Hier und Jetzt – und noch seltener gilt Kritik für die Ewigkeit als die besprochenen Werke.
Wer hätte 1993 gedacht, dass Doom einmal als Kunstwerk betrachtet wird? Urteile unterliegen Zeitgeist und persönlichem Geschmack. Gutes Handwerkszeug vermag eine Willkürlichkeit des Urteils zu verhindern. Endgültigkeit können sie nicht schaffen. Und wollen sie auch gar nicht. Aber uns als Entwicklern sollte klar sein, dass unsere Arbeit jetzt noch in anderen Kategorien beurteilt wird als Grafik, Sound, Story und Spielspaß. Und das ist gut für uns. Denn es erlaubt uns die Auseinandersetzung mit unserer Kunstform auf ganz neuen Ebenen – und damit auch das Entdecken neuer Design-Paradigmen, was noch immer die Entwicklung neuer Designmöglichkeiten nach sich gezogen hat – und in der Folge neue Zielgruppen für das Medium erschließen kann.
Games haben in den letzten Jahren dank erheblich gesunkener Werkzeug- und Produktionskosten einerseits und frischen Denkansätzen andererseits einige erstaunliche Blüten hervorgebracht. Es gibt keinen Grund mehr für die Community, Angst vor der öffentlichen Diskussion zu haben. Denn längst ist die Öffentlichkeit selbst weitgehend deckungsgleich mit der Gamer Community. Klar: Es wird die Christian Pfeiffers dieser Welt immer geben. Es gibt ja auch nach wie vor Leute, die behaupten, die Erde sei eine Scheibe. Aber welchen Anteil – außer einen unterhaltenden – haben die an dieser Diskussion noch?
Also: Wir kriegen die Betrachtung in der Kulturkritik nicht mehr weg, selbst wenn wir es wollen. Und die Behauptung „es ist nur ein Spiel“ wird in dem Augenblick hinfällig, in dem das Spiel als kulturell bedeutsam wahrgenommen wird (was ja überhaupt erst eine öffentliche Diskussion auslösen kann). Das nimmt niemandem das Recht, sich von diesem Spiel einfach nur gut unterhalten zu fühlen. Es nimmt uns nur das Recht, im Schutze einer nur scheinbar mangelnden Bedeutung die Diskussion zu verweigern, was wir eigentlich tun, wenn wir Spiele machen.
Und das finde ich gesund und hilfreich.
Die Reaktionen auf die sehr intelligenten Posts von Peter Strabow und auf den Kill-Screen-Artikel zeigen wie sehr sich die Spieler mit dem Medium verbunden und persönlich beleidigt fühlen, wenn dieses kritisiert wird. Kritik ist nur erwünscht, wenn es um die vermeintlich gierigen Publisher geht.
Ob Cineasten genauso reagieren, wenn jemand den neuen Film von Michael Bay als übles Propagandamachwerk bezeichnen würde? Oder Leseratten ein Problem damit haben, wenn das neue Buch von Charlotte Roche zerrissen wird?
Ich vermute ja, dass dieses Sich-Angegriffen-Fühlen vieler Spieler u.a. daher herrührt, dass sie lange dafür eintreten mussten, dass „ihrem“ Medium die ihm zustehende Anerkennung zuteil wurde. Möglicherweise wird deswegen jede Kritik an den politischen Statements von Spielen (oder gerade in den letzten Wochen wieder verstärkt an Sexismus in Spielen) als Angriff auf das Medium an sich empfunden und damit als bedrohliches Andenken an Verbote und Indizierung. Oder, wie du schon sagtest, die Kritik wird sogar persönlich genommen, was damit zu tun haben könnte, dass dieser Kampf um die Anerkennung des persönlichen Hobbys eben auch jetzt noch stattfindet, was auf Bücher oder Filme in dieser Weise erstmal nicht zutrifft. In anderen „jungen“ Szenen reagiert man auf Kritik ähnlich allergisch (etwa die Manga-Szene) und hält Kritikern auf ähnliche Weise entgegen, dass ja nur dieses und jenes zähle, und man anderes nicht so ernst nehmen solle.
Das alles mag zwar auch mit dem jüngeren Alter vieler Spieler zu tun haben, und ebenso mit der allgemeinen Kommunikationskultur im Internet, aber ein anderer Punkt ist imo auch der Mangel an Reflexion etwa von Seiten der meisten professionellen und semi-professionellen Redakteure der Spielepresse. Es geschieht zumehmend häufiger, dass auch in populären Spieletests die Frage nach überzogener Gewalt oder nach Sexismus aufkommt, aber viele Autoren argumentatieren da erstaunlich unbeholfen. Die meisten Gamer können auch die harscheste Kritik ab(geben), wenn es um Grafik oder Spielbalance geht, wenn diesen Spielen aber Militarismus, Sexismus, Rassismus und dergleichen vorgeworfen wird, dann sind konstruktive Diskussion kaum noch möglich, dann heißt es entweder „Zensur!“ oder „Ich will ja nur spielen!“
Cineasten oder Leseratten sind womöglich auch nicht (selbst)kritischer – aber sie würden unliebsamer Kritik wohl von vornherein weniger Beachtung schenken, sie nicht als Bedrohung auffassen.
Sehr schöner Artikel übrigens.
Hat dies auf Pitforman rebloggt.