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Wortreich #2: Ein paar (hoffentlich) innovative Bemerkungen zur Innovationsdiskussion

„Wortreich“ ist meine monatliche Kolumne auf dem phantastischen The Pod. Hier dokumentiere ich mit etwa einer Woche Abstand den um Ungenauigkeiten bereinigten, gesprochenen Text.

Eine kleine Geschichte über eine große Innovation: Irgendwann zwischen Ende 1996 und September 1997, zwischen ein paar kurzen Zwischensequenzen von Tomb Raider und dem szenisch hochkomplexen Intro von Incubation, fand auf dem PC eine Revolution statt, die außer den Entwicklern keiner so richtig bemerkte oder auch nur begrüßte. In PC-Spielen wurden 3D-Cutscenes nicht mehr nur in vorgerenderten Filmchen abgespielt, sondern zunehmend direkt aus der Engine, mit zeitlich synchronen Dialogen abgeliefert. Im Falle von Incubation durfte ich als Producer Teil dieser Revolution sein.

Es erinnert sich natürlich kaum noch jemand an die Diskussionen in den Jahren davor, etwa ab 1994, in denen man sich darüber lustig machte, dass die kaum als menschlich zu erkennenden 3D-Wesen aus der Echtzeitsimulation dann in den Cutscenes auf einmal durch richtige Schauspieler ersetzt zu vollem Leben erblühten, nur um 45 Sekunden später wieder ein Haufen schwer lesbarer Pixel auf einem 12 Zoll Bildschirm zu werden. Zumal diese Filme auf den meisten Rechnern auch noch nicht ruckelfrei in 640*480 – damals der heiße Scheiß was Auflösungen betraf – abgespielt werden konnten und deshalb gerne in kleinen 300*200 Fenstern liefen. Voll animierte Hires-3D-Charaktere wären noch viel teurer gewesen, und viele Technologien, die sie wirklich menschlich hätten erscheinen lassen, gab es noch gar nicht. Der Glaubwürdigkeitsverlust war bei jedem Wechsel von Spiel auf Cutscene nur mit sehr gutem Willen des Spielers auszugleichen. Aber: es war halt technisch die Grenze des damals Möglichen.

Dann zum ersten Mal menschliche 3D-Charaktere mit Spielhintergründen und Dialogen in Echtzeit-Cutscenes. Die beiden Spiele, die ich oben erwähnte, hatten dabei, obwohl beide exzellente Wertungen bekamen, sehr unterschiedlichen Publikumserfolg. Der von Incubation – obwohl heute ein Klassiker – war eher mäßig.

Um es kurz zu machen: Der Misserfolg lag nicht an der technischen Innovation. Es lag auch nicht an dem – für ein rundenbasiertes Taktikspiel – sehr innovativen und intuitiven Interface. Denn lustigerweise wurde über nichts davon in der Spielepresse ein Aufhebens gemacht. Die Revolution wurde nicht mal bemerkt! Cutscenes in Echtzeit: ein Nebensatz in den Reviews. Das Interface: aufgeräumt, nicht im Weg, gelobt – aber für die Wertungen nur insofern wichtig, dass es nicht negativ ins Gewicht fiel. Der noch junge Andre Peschke fand die Sache mit den Echtzeitcutscenes auch eher nicht so toll. Für ihn waren die ersten Ingame-Cutscenes ein Rückschritt. Er wollte (Zitat) „lieber das Rendervideo, als sprechenden Pixelmatsch.“ Ich wette, er hat Tomb Raider dennoch geliebt.

Ich erzähle die Geschichte, weil es immer heißt, Innovation sei ein Verkaufshindernis. Denn das Schlimmste wäre, wenn Entwickler und Publisher das undifferenziert glauben und deshalb Innovationen meiden. Die Games-Industrie, heißt es, wäre nicht innovativ genug, würde immer wieder dieselben Rezepte aufkochen und sich auf ihren Lorbeeren ausruhen. Und wenn wir uns die Vorliebe der AAA-Industrie für Sequels eingeführter Brands anschauen, dann ist man schon versucht zu sagen: Innovation und Spiele-Industrie, das passt nicht wirklich zusammen.

Innovationen sind kein Verkaufshindernis!

Wie die meisten Stanzen haben solche Sätze einen wahren Kern – und um den herum eine Menge Fett angesetzt, das letzten Endes mehr Schaden anrichtet als Nutzen bringt. Inwiefern sie noch wahr sind und ab wann vielleicht nur intellektueller Trägheit geschuldet, dazu muss ich ein wenig ausholen. Denn es ist immer hilfreich, ganz vorne anzufangen, wenn eine Diskussion in Sprüchen zu versinken droht.

Was bedeutet eigentlich Innovation? Und schon bei der Antwort darauf merken wir, dass das Thema alles andere als einfach ist. Ich lese mal kurz aus dem Wikipedia-Eintrag zu „Innovation“ vor. Stand ist der 21.6.2017:

„In die Wirtschaftswissenschaft wurde der Begriff durch Joseph Schumpeter mit seiner Theorie der Innovationen eingeführt; hier ist er als Aufstellung einer neuen Produktionsfunktion definiert. Die Innovation ist ein willentlicher und gezielter Veränderungsprozess hin zu etwas Erstmaligem, „Neuem“. Wirtschaft und Gesellschaft wandeln sich, wenn Produktionsfaktoren auf eine neuartige Art und Weise kombiniert werden. Auch in der Geisteswissenschaft und der Kultur wird der Begriff Innovation verwendet. Das forschende Suchen nach neuen Erkenntnissen oder künstlerischen Lösungswegen und Lösungen setzt Neugier, Kreativität und Lust auf Erneuerung voraus. Merkmal künstlerischer Avantgarden ist es, bisher unbekannte („innovative“) Ausdrucksformen zu finden und zu nutzen.“

So weit unser aller Lieblingslexikon. Wir haben also schon mal mindestens zwei voneinander recht verschiedene Begriffe, abhängig davon, ob die Innovation eher künstlerisch oder produktionsorientiert ist. Das ist keine entweder-oder-Situation: Die Echtzeit-Cutscene in Games ist definitiv beides gewesen. Unter Schumpeters Definition fällt beispielsweise der Heimcomputer, der es ein paar pickeligen Teenagern erlaubt hat, eine weltweit inzwischen 100-Milliarden Dollar schwere Gamesindustrie aufzubauen. Karl Marx‘ Forderung nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, in Zeiten der asozial aufgestellten Schwerindustrie des mittleren 19. Jahrhunderts sicher nachvollziehbar und von Wert, wird natürlich absurd, wenn die Produktionsmittel nur noch ein paar 100 Euro kosten: Eine neue Produktionsfunktion gebiert (unter anderem) neue Rahmenbedingungen für den gesellschaftlichen Diskurs. Und wenn die technischen Revolutionen sich im Zwei-Jahresrhythmus die Klinke in die Hand geben, der gesellschaftliche Diskurs aber im Grunde immer noch zwischen den 50er und den 80er Jahren pendelt, dann findet man sich … Wo war ich stehengeblieben?

Scheitert! Häufiger!! Gründlicher!!!

Das Computerspiel selbst ist andererseits eben nicht nur ein seit vier Jahrzehnten sprudelnder Quell technischer Revolutionen, sondern die vielleicht größte künstlerische Innovation der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und deshalb schumpetern wir jetzt nicht mehr, wir befinden uns stattdessen im Definitionsbereich von Geisteswissenschaften und Kultur. Eine völlig neue Kunstform passiert nun mal nicht so häufig. Ich habe an anderer Stelle, auf meinem Blog „Der Blindband“, schon ausführlich dargelegt, warum ich das Game für den legitimen Nachfolger der Literatur halte, und für eine der Möglichkeiten, den gesellschaftlichen Diskurs wieder mit der technologischen Entwicklung zu synchronisieren.

Vieles von dem, was diese hochkomplexe und oft missverstandene Form seit ihren frühen Tagen hervorgebracht hat, ist schon deshalb im höchsten Maße innovativ, weil es – um auch mal die Kanzlerin zu Wort kommen zu lassen – für uns alle – tatsächlich – Neuland ist. Sprich: Alles, was diese Form in den letzten 30 Jahren hervorgebracht hat, geschah letzten Endes auf einer vorher nicht betretenen ästhetischen Ebene. Es gab keine Vorbilder. Und es ist ja eigentlich logisch, dass dann auch viel schief geht. Wir alle kennen und lieben ja die Menschen, die sich gerne mit einem zufriedenen Lächeln zurücklehnen und das Scheitern anderer verlachen: „Siehste! Wusste ich ja immer, dass das nicht klappt!“ Wenn’s nach denen ginge, säßen wir noch immer auf den Bäumen, und der von ihnen geliebte Stammtisch wäre nie erfunden worden, weil man den nur bauen kann, wenn die Hände nicht mehr dazu geeignet sind, von Ast zu Ast zu schwingen. Deshalb von dieser Stelle aus ein bis zu den Fußsohlen gezogener Hut vor allen Menschen, die durch ihr Scheitern oder ihre – wenn sie ehrlich sind – meist eher zufälligen Erfolge zum Gelingen der Kunstform beigetragen haben. Ihr seid alle Helden und dürft stolz auf Euch sein!

Natürlich ist das Spiel an sich eine sehr alte, prä-humane Form, obwohl erst der Mensch es wohl kodifiziert, sprich: in verbale Regeln gegossen hat. Und man könnte natürlich daraus ableiten, dass es sich also mitnichten um Neuland gehandelt hat, was da in den letzten Jahrzehnten entstanden ist. Dem allerdings will ich aus eigener Erfahrung heftig widersprechen. Wenn ich, wie es in den meisten Brett-und anderen Spielen geschieht, eine sehr überschaubare Anzahl an Agenten, Spiel-Elementen und Spielfeld-Instanzen für eine ebenso überschaubare Zeit regeln muss, so dass die Regeln fair sind und der Spieler gut gesteuert wird, dann ist das eine ungleich andere Aufgabe, als wenn ich diese sehr abstrakte Spielwelt dimensional in Richtung Simulation verschiebe (denn genau darin ist der Computer sehr gut). Die Anforderungen an Mathematik und Regelkontrolle steigen exponentiell, und damit die Anforderungen an die Spielerführung. Hier nur ein kleines Beispiel von Hunderten, die ein Brettspiel von einem Computerspiel unterscheiden: In einer Welt, in der ein Agent mehrere Milliarden Positionen einnehmen kann (wie in eigentlich jedem Computer-RPG) und die kleinsten Abweichungen Unterschiede bei Trefferwertungen etc. bedeuten können, müssen viele Dinge völlig anders gemacht werden, als bei einem 64-Positionen-Spiel wie Schach.

Innovationen sind primär ein Produktionsrisiko!

Dies zu begreifen, war die erste große Innovation im Denken der Designer. Das Spiel trat aus dem Laufstall, in dem es viele Jahrtausende verbracht hatte, und schaute ungläubig und mit großen Augen in eine unendlich große Welt. Das alles, wurde ihm gesagt, gehört jetzt dir. Mach es dir untertan!

Dass es da nicht sofort gazellengleich ästhetisch die Sinne verzauberte, um die Kunstwelt mit seiner innewohnenden Eleganz und Schönheit zu erobern, kann man eventuell nachvollziehen. Und man kann sogar mit einigem Recht behaupten, dass es sich nach wie vor eher so aufführt wie ein Elefant im Porzellanladen. Aber niemand kann sagen, dass es nicht eine geradezu unwahrscheinliche und unvorhersehbare Entwicklung genommen hat. Beziehungsweise: viele Entwicklungen:

  • in der Mechanik oder Kombination von Mechaniken
  • in der Technologie
  • in der Mensch-Maschine Kommunikation
  • im Setting
  • in den Emotionen

Völlig neue Spielmechaniken sind schwer zu erfinden: darin waren auch schon die Menschen früherer Jahrtausende gut. Was der Computer liefert, ist die Erweiterung von Mechaniken und ihre Kombination, Möglichkeiten, die früheren Jahrhunderten versperrt waren, weil die Spiele dabei – mit nur dem Menschen als Rechenmaschine – viel zu komplex und ihre Regeln zu undurchschaubar geworden wären. Echtzeitstrategiespiele gab es zwar auch damals schon, aber die hießen „Krieg“ und erfreuten sich bei den Mitspielern meist nur mäßiger (und oft genug auch sehr vorübergehender) Beliebtheit. Andere Spielarten, die vor dem Einsatz schneller Prozessoren viel zu gefährlich oder zu teuer gewesen wären: Jump’n’Runs, Shooter, viele Action Games, und Sportsimulatoren, die den Namen Simulator wirklich verdienten.

Und tatsächlich gibt es bis heute Versuche, Spielmechaniken neu zu kombinieren, um so sehr gelegentlich sogar zu neuen Genre zu gelangen. Ein gelungenes Beispiel dafür, auch schon fast 20 Jahre alt, war Thief, das 1998 das 3D-Schleichgame für den PC erfand. Neuartige Grafik-Engines machten es möglich, die Licht-und sogar Klangverhältnisse verschiedener Umgebungen zu simulieren und aus dieser neuen Technologie erfolgreich Gameplay-Kapital zu schlagen. Womit schon der Beweis erbracht ist, dass technische Innovation häufig auch spielmechanische ermöglicht: Bestimmten Texturen wurden jetzt Materialeigenschaften zugecodet: ein Teppichboden, der betreten wurde, machte andere und leisere Geräusche als ein Steinfußboden. Und die gleichzeitige First Person Perspektive machte das Ganze besonders spannend. Man war der Meisterdieb!

Innovationen fanden und finden statt!

Thief ist übrigens eines der seltenen Beispiele, bei dem eine völlig neue Mechanik von der Welt sozusagen sofort begeistert adoptiert wurde und das Spiel zum Hit machte. Das passiert extrem selten. Donkey Kong ist ein anderes Beispiel dafür, aber selbst vor Doom, dem angeblichen Urvater aller 3D-Shooter, gab es das viel weniger beachtete Castle Wolfenstein.

Dass Thief nebenher auch als so ziemlich erstes Actionspiel dem Spieler die Entscheidung überließ, ob ein Gegner getötet oder mit Intelligenz umgangen wurde, machte das Spiel auch zu einem Durchbruch im ethischen Gameplay. Plötzlich war es sozusagen meine Schuld, wenn da jemand in seinem Blut lag. Angeblich, so stand es in der Presse, konnte man das Spiel gewinnen, ohne einen einzigen Gegner zu töten. Hinzu kam, dass das Spiel sich auch einige Mühe gab, die menschlichen Gegner nicht als Monster darzustellen. Wenn man sie belauschte, unterhielten sie sich über ganz alltägliche Dinge. Und dies war natürlich auch eine Innovation im Bereich Mensch-Maschine-Kommunikation. Denn irgendwie musste das Game dem Spieler ja erzählen, wie gut er gerade versteckt war. Da sind Menschen, die in Sichtweite zwei Meter entfernt stehen und sich über Familienangelegenheiten unterhalten, ein ganz guter Indikator.

Wir können also sehen: eine Innovation, eine neue Mechanik, kann eine ganze Menge weiterer Innovationen nach sich ziehen, die durch die erste notwendig oder zumindest konsequent werden. Mir jedenfalls brachte Thief auch ein emotionales Erleben, wie ich es vorher noch in keinem Spiel auch nur annähernd gehabt habe. Leider rutschte das Setting dann irgendwann in Richtung Fantasy ab und es gab einige andere Schwächen bei der Steuerung, was meine Suspension of Disbelief erheblich belastete, so dass ich das Game nicht mal beendete. Aber für ein paar Stunden war da bei mir ein großes Staunen.

Die wenigsten kennen sich gut genug aus, sie zu dann auch als solche erkennen!

Und genau hier landen wir bei einem der eigentlichen Probleme, die Innovationen mit sich bringen: Sie machen unfassbar viel zusätzliche Arbeit, die einem anschließend niemand wirklich positiv anrechnet. Es reicht nicht, eine neue Mechanik zu programmieren. Man muss sie dem Spieler auch vermitteln, sie ihm beibringen, ihre Konsequenzen voll durchdenken – und man sollte sie so gut hinkriegen, dass sie den Spieler sofort überzeugt. Weil man sie aber ja selbst noch nicht kennt, sind dann im Produktionsprozess erheblich mehr Iterationen in vielen Bereichen von der Mechanik zum Interface notwendig, um die Mechanik so brillieren zu lassen, wie das in „Thief“ gelang.

Und das bedeutet, dass die Entwicklung eines Games entweder erheblich teurer wird, oder die Qualität in anderen Bereichen niedriger. Thief war so ein Spiel. Weil den Entwicklern nur Menschen als Gegner irgendwann zu langweilig wurden (oder sie fürchteten, dies ginge dem Spieler so), tauchten irgendwann lebende Skelette auf- was einem halt in der Eile so einfällt, wenn zu wenig Zeit zum Nachdenken da ist und kein Budget mehr für gut durchdachtes Monsterdesign- und das bis dahin fast realistische und extrem reizvolle Setting aus Mittelalter meets Industrialisierung wurde (für mich zumindest) zur Farce. Mittelalter meets Industrialisierung meets Fantasy: das habe ich bislang nur Bethesda geglaubt.

Ich habe also als Entwickler bzw. Publisher drei Möglichkeiten:

  1. Ich spiele auf Sicherheit und implementiere Innovation nur in homöopathischer Dosis unterhalb der Nachweisgrenze
  2. Ich riskiere richtig was, werde innovativ, bin aber nicht so bescheuert, für dieses Experiment noch mehr Geld auf den Tisch zu legen, als normalerweise für ein solches Spiel ohnehin schon
  3. Ich setze alles auf eine Karte und investiere eine Menge Geld zusätzlich in hochriskante Innovationen, deren Folgen und Erfolgschancen meist nicht abschätzbar sind, wohl wissend, dass die Beispiele, bei denen so etwas funktioniert hat, in 40 Jahren Games-Geschichte an einer Hand abgezählt werden können.

Irgendwo dazwischen muss ich mich positionieren.

Und bei solchen Entscheidungen ist es wenig hilfreich zu wissen, dass die Mainstream-Gamespresse echte Innovation etwa so begrüßenswert findet wie eine Schiffsladung Milchpulver: Man ist nicht dezidiert dagegen, aber wen interessiert’s, wenn das neue Call of Duty rauskommt, das zwar genauso Call of Duty ist wie alle Call of Dutys davor, aber in seiner Call-of-Duty-Haftigkeit halt unerreicht. Regel: je größer das Budget, je mehr Arbeitsplätze vom Erfolg des Spiels abhängen, desto weniger Lust haben die Entscheidungsträger auf Risiko. Und wer möchte es ihnen verdenken?

Das Innovationshindernis steigt parallel zum Budget …

Das größte aller Produktionsrisiken heißt aber immer „Innovation“. Und selbst wenn das innovative neue Feature klappt, dafür aber andere Dinge ein wenig schiefer gehen als sonst, weil dafür das Budget gefehlt hat, sorgt dieselbe Mainstream-Gamespresse, die in regelmäßigen Abständen mehr Innovation fordert, gerne für einen mäßigen Metascore. Hinzu kommt, dass der AAA-Spieler sehr häufig konservativ ist. Das ist ein gesamtmenschliches Phänomen: Genauso wie viele Menschen meines Alters immer noch beinahe ausschließlich Musik aus den 60ern und 70ern hören, weil sie in ihr ihre emotionale Heimat gefunden haben, so scheint es eine Menge Spieler zu geben, die eigentlich immer wieder das gleiche Spiel spielen wollen, nachdem sie sich einmal in einer Mechanik eingerichtet haben. Ein neues Setting, ein neuer Spielercharakter: das ist alles, was sie wollen. Man kann das beklagen, aber das ist wie der berühmte Sack Reis in China: interessiert den Markt nicht. (Wobei ich mir immer denke, dass dieser Sack Reis inzwischen so berühmt ist: das stünde dann wahrscheinlich wirklich zehntausendfach mit „Je suis Reissack“ auf Facebook, wenn der mal tatsächlich umfiele …)

Aber zurück zum Thema: Jetzt sollte man die Bedeutung der Gamespresse nicht überbewerten. Vor allem für schon eingeführte Brands scheint es einigermaßen egal zu sein, was die Presse sagt, solange sich die Wertungen irgendwo im grünen Bereich oberhalb von 70% halten. Wichtiger ist da eher, dass sich die Spieler sofort wieder zuhause fühlen. Für neue Marken allerdings ist ein Meta-Score von unter 80, besser 85% schon meist der Todesstoß. Und wer je versucht hat, einem 23-jährigen Spielejournalisten die Schönheiten einer zwar innovativen, aber eventuell etwas komplexen neuen Mechanik zu erläutern, der weiß, wie hoch die Chancen da stehen. Wenn diese Mechanik nicht schon ab Markteinführung so einfach spielbar ist, als wäre sie schon seit 5 Jahren im Windkanal des Marktes optimiert worden, dann kann man das vergessen.

Warum also sollte ich als Entwickler so ein Risiko überhaupt eingehen? Antwort: Ich mache das, wenn und weil es mir nicht ums Geld geht. Und damit sind wir sofort im Indie-Bereich, aus dem fast jede wichtigere auch wirtschaftlich erfolgreiche und nicht technische Innovation der letzten Jahre stammte. Ob es die erfolgreichen Versuche sind, den Wirtschaftssimulationen durch neue Settings wie Bürgerkrieg, Grenzkontrolle oder einfach nur harte Ressourcensituation neues Leben einzuhauchen, einen Plattformer mit der Sterbegeschichte eines Krebskranken zu begleiten oder Lego endlich auf dem PC verfügbar zu machen, ohne Lego dafür Tantiemen zahlen zu müssen: Banished, Papers, please, This War of Mine, In Between und Minecraft kamen beinahe aus dem Nichts, wurden mit teils lächerlichen Budgets erstellt und erweiterten die Möglichkeiten des Spiels als Form erheblich mehr, als sämtliche AAA-Titel in diesem Zeitraum zusammen.

Dies ist weniger ein Vorwurf an die AAA-Entwickler. Wenn überhaupt, dann kann man den Publishern einen machen. Denn abgesehen von den Quartalszahlen hindert eigentlich nichts die großen Publisher daran, sich talentierte Indie-Teams zu halten, die neue Konzepte erproben und bis zur Marktreife entwickeln, ohne dabei in finanzieller Armut und am sozialen Abgrund leben zu müssen. Die paar Millionen, die das kosten würde, kämen zwar langfristig durch exzellent zu Ende gedachte und deshalb vom Publikum schnell akzeptierte Innovationen leicht wieder rein. Aber die Börse interessiert sich dafür nur mäßig. Die interessiert nur das nächste Quartal.

… und zur „Entertain Us“-Haltung der Spieler.

Vor allem aber muss man hier mal Kurt Tucholsky zitieren: „Sag mal, verehrtes Publikum: Bist du wirklich so dumm?“. Denn nichts, gar nichts hindert jeden einzelnen von uns daran, die nicht ganz perfekte Verpackung innovativer Games schlicht zu ignorieren und es zu genießen, dass uns da jemand die Intelligenz zutraut, auch mal ein wenig gegen die Frisur zu denken.

Ich habe mich da ja selbst schon schuldig gemacht. Zum Beispiel als ich das erste Mal Pathologic gespielt habe und mir betrogen vorkam, weil das Spiel mich nicht in die so bequemen, US-amerikanischen Designer-Einwegwindeln gepackt hat. Stattdessen gab es, wahrscheinlich aus Stacheldraht gewobene, russische Traditionsware. Das Game war unbequem und hat gekratzt, aber war so viel näher an einem wirklichen Erleben, an echten Emotionen. Es dauerte allerdings ein paar Wochen, bis ich begriffen hatte, dass mich das Spiel gar nicht für ein Baby hielt. Das, was ich mir als Windel umgebunden hatte, war in Wirklichkeit der Arbeitsanzug eines erwachsenen Arztes aus dem frühen 20. Jahrhundert – und vielleicht, merkte ich wie so häufig ein wenig zu spät, sollte ich dann auch so denken und begrüßen, dass mich mal jemand für erwachsen hielt.

Jetzt ist es natürlich eine Utopie, dass auch nur eine starke Minderheit der Kunden eines Massenmarktes irgendetwas anderes möchte als seligen Eskapismus. Das ist bei Games nicht anders als bei Filmen, Büchern oder Gemälden. Aber ich kann auch nicht hingehen und die immer gleich kitschigen Sonnenaufgangsbilder mit Dogenpalast, die mir auf dem Markusplatz in Venedig angeboten werden, als Beleg dafür nehmen, dass es in der bildenden Kunst keine Innovationen mehr gibt. Der Massenmarkt war noch keinem Kunsthandwerk ein Hort künstlerischer Innovation. Der AAA-Markt in Spielen ist zumindest einer für technische. Das hat er allen anderen Kunstmärkten (noch) voraus. Ansonsten liefert er Fertigwindeln.

Innovation musste schon immer bei denen gesucht werden, denen es entweder um die Kunst ging, oder um das Abdecken einer Marktlücke, die nur sie sahen. Und wie Minecraft zeigte: Manchmal gelingt das. Innovation war schon immer eine Stärke jener Menschen, die am Rande leben und deshalb Bewegungen, die vom Rande kommen, früher mitkriegen. Es waren Außenseiter, die den Neanderthaler als Vormensch erkannten und nicht als Höhlenbär fehlinterpretierten, die die Relativitätstheorie formulierten oder als erste den Blues spielten.

Technische Innovationen in den letzten zehn Jahren haben dafür gesorgt, dass die Produktion eines Computerspiels heute deutlich einfacher geworden ist, als es Mitte des letzten Jahrzehnts noch war, als man sozusagen immer erst mal die Grafik-Engine from Scratch neu bauen musste, wenn man nicht bereit war, einen Betrag für eine Fertig-Engine auszugeben, der für viele Indies schon das Gesamtbudget überstieg. Das hat sich geändert. Der damit verbundene Aufstieg der Indies hat eine Innovationswelle losgetreten, die nur derjenige übersehen kann, der tatsächlich immer nur Top Five-Games spielt. Und auch, wenn sich kaum noch jemand daran erinnert: die Unreal-Engine hat mal als AAA-Game angefangen.

Tatsache ist und wird es auch noch für viele Jahre bleiben: von der Schaffung neuer Märkte und Geschäftsformen über neue Technologien bis hin zu neuen Ausdrucksformen ist kein Kunstmarkt dieser Welt – wenn es um Innovationskraft geht – auch nur in Sichtweite der Games-Industrie. Die vorherrschende Innovationsdebatte ist eine, die sich beinahe ausschließlich auf die mangelhafte Innovationsfähigkeit der Publisher von vielleicht 25 Spielemarken in dieser Welt bezieht.

Ungefähr so viele Games, 25, sind seit gestern übrigens alleine auf Steam erschienen. Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist, verehrte Zuhörer, aber ich werde wahrscheinlich keines davon jemals spielen. Was immer an Innovationen in ihnen steckt: ich werde es nicht mitbekommen.

 

Ein paar Links:

Über Innovationen in Games und dem Gamesmarkt:

http://www.gamasutra.com/blogs/LewisPulsipher/20111212/90787/Innovation_in_Game_Design.php

http://www.gamasutra.com/blogs/AdriaanJansen/20151016/255885/Price_of_innovation.php

http://www.gamesetwatch.com/2007/09/independent_games_summit_next.php

https://www.youtube.com/watch?v=w_skCXC9oVA

https://drive.google.com/file/d/0B63ECAQbV8dvUzh4NGF0QWhHa0U/view

http://www.gamesindustry.biz/articles/2013-04-30-indies-and-AAA-pubs-may-need-to-partner-more-Contrast-dev

Komplettes Intro von Incubation, direkt aus der Engine gerendert (englisch): https://www.youtube.com/watch?v=AYuoC1EfMYY

Definition Innovation: https://de.wikipedia.org/wiki/Innovation

Games, die 100 Milliarden Dollar Industrie: https://newzoo.com/insights/articles/global-games-market-reaches-99-6-billion-2016-mobile-generating-37/

Der Blindband: Games sind für den Computer, was die Literatur für die Druckmaschine war: https://wordpress.com/stats/post/2432/thevirtualmirror.wordpress.com

Tucholskys berühmte Publikumsbeschimpfung: http://www.yolanthe.de/lyrik/tucho02.htm

 

2 thoughts on “Wortreich #2: Ein paar (hoffentlich) innovative Bemerkungen zur Innovationsdiskussion

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