Man stelle sich vor, irgendeine Bibliothek würde 10.000 verschollene Bücher online stellen, so dass jeder sie wieder lesen könnte. Und dann stelle man sich vor, das deutsche Feuilleton würde dies vollkommen ignorieren – und stattdessen würde darüber in der Computerbeilage berichtet, weil: ist ja online. Man stelle sich vor, ein Schelllackplattensammler würde 10.000 Aufnahmen aus der Zeit zwischen 1900 und 1920 als mp3 online stellen, komplett mit Interpreten und Komponisten, für jedermann zum Anhören, Aufnahmen, die ansonsten nicht mehr zugänglich waren – und statt des Feuilletons würde man das an den Redakteur geben, der alle drei Monate über neue Neuentwicklungen im Audiomarkt berichtet.
Genau das ist gerade geschehen – und keiner regt sich drüber auf! Nicht mal die, die nicht nur jedes Recht dazu hätten – sondern sogar die Pflicht!
Dieses Bild zeigt einen Screenshot von Spiegel Online am heutigen 11.8.2016, 11:20 Uhr. Dieser Screenshot verrät alles darüber, was an der gesamtgesellschaftlichen Diskussion über Spiele falsch läuft. Er zeigt die vollständige Ignoranz weiter Teile der Medien gegenüber der wichtigsten Kunstform des 21. Jahrhunderts: Games. Er zeigt das vollkommene Verkennen der Bedeutung von Games für den kulturellen Zusammenhang unserer Gesellschaft durch genau jene, die eigentlich für genau das Erkennen solcher Zusammenhänge zuständig wären und dafür bezahlt werden: die Kulturjournalisten des Landes. Denn nicht die Kultur berichtet über die Veröffentlichung von 10.000 Games, die ansonsten im Orcus der Geschichte untergegangen wären, sondern die Abteilung Netzwelt. Die Wiederveröffentlichung von 10.000 kreativen Werken, der jetzt mögliche Blick in eine lange verloren geglaubte Phase der Entwicklung einer neuen Kunstform, wird auf Augenhöhe abgehandelt mit einem iPad-stehlenden Meeressäuger.
Eine Google-Recherche zum Thema ergab auf den ersten 5 Seiten nicht einen Link, unter dem die Meldung bei Kultur oder Feuilleton abgeheftet worden wäre. Auf Seite 6 und immer noch erfolglos, gab ich auf, denn der Befund war klar:
Hör mal, Feuilleton: Dreh mal die Wagner-Arien leiser, damit du den Schuss wieder hörst! Seit mindestens den mittleren 70er Jahren sind Computerspiele Teil der menschlichen Kultur. 40 Jahre ist das her! Reine Jugendkultur sind sie also, nach Adam Riese, spätestens seit 1990 nicht mehr. Auch in euren Redaktionen müssen Mitfünfziger sitzen, die als Jugendliche im Bistro an der Slot Machine für eine Mark Pacman gezockt haben. Ist das die reine Arroganz, dass ihr eine solche Meldung nicht für eure Sparte reklamiert? Oder ist es Ignoranz? Oder – wie ich vermute – aus der Arroganz geborene Ignoranz?
Um das ganz klar zu sagen: die Kunstform, die im Augenblick den Menschen am meisten zu sagen hat, ist das Computerspiel! Und wenn ihr das nicht glaubt, dann hebt euren Arsch mal vom Klavierhocker und bewegt euch vor die Tür. Wann hat es in einer der klassischen Kunstformen das letzte Mal das große Aufbäumen gegeben, einen Ruck, der dann tatsächlich Folgen für die Menschen insgesamt hatte, der sie in Massen bewegte und diskutieren ließ – und nicht nur einen handverlesenen Kreis an Spezialisten in geschlossenen Zirkeln? Habt ihr es euch wirklich in der von euch verwalteten, gepflegten Langeweile so gemütlich eingerichtet, dass euch nicht mal mehr erreicht, wenn – wie es etwa alle zwei Jahre geschieht – die Ästhetik der Games vollständig umgekrempelt oder zumindest entscheidend erweitert wird? Wenn eine Kunstform, die wie keine andere dazu prädestiniert ist, Umberto Ecos offenes Kunstwerk hervorzubringen, sich dauernd revolutioniert und dabei – horribile dictu – auch noch die tumben Massen begeistert? Geht euch nichts an? Das habe ich befürchtet.
Und ihr, Entwickler, Spielejournalisten und auch Gamer: Ihr nehmt das einfach so hin? Ihr findet es geil, dass es die Spiele wieder gibt, und kriegt den Skandal nicht mal mit, dass diese kulturgeschichtliche Sensation außerhalb der Spielepresse im Computer/Netzwelt-Segment abgehandelt wird?
In letzter Zeit gab es mal wieder eine Gewaltdebatte um Spiele. Und diese Debatte muss geführt werden. Aber damit dies fruchtbar geschehen kann, muss das Game auch da diskutiert werden, wo es hingehört, und das ist der Kultur- und – wenn das Game es hergibt – sogar der Kunstdiskurs. Solange die Industrie da nicht genügend Druck macht (und ich fasse mir da auch an die eigene Nase), solange das Feuilleton lediglich Bestandswahrer der klassischen Kunstformen sein möchte, solange die Spielepresse sich vorwiegend als Games-Abteilung der Stiftung Warentest versteht, wird die Gewaltdebatte verlogen und unfruchtbar bleiben, weil sie nicht Teil einer intellektuell ehrlichen Kulturdebatte um Games ist.
Solange in Deutschland eines der absehbar wichtigsten Lehrmittel der Zukunft nicht ernst genommen wird, solange eine ungute Melange aus Rückwärtsdenkern, Intellekt-Idiosynchratikern und schlicht Faulpelzen den kulturkritischen Diskurs in Richtung Computerspiel verschlossen halten, wird sich das Land diese neue Kulturform auch nicht zunutze machen können. Weder für die Gesellschaft an sich, noch für die Lehre, noch für die Wirtschaft. Und natürlich auch nicht für die Kultur.
Wir hatten in einem Kreise mehr oder wenig Gleichgesinnter im Rahmen der Quo Vadis schon einmal über ein Manifest gesprochen, das wir verfassen und veröffentlichen wollten. Das ist ein wenig versandet – wir haben alle viel zu tun. Ich möchte den Faden wieder aufnehmen: Schickt mir Eure Gedanken zu diesem Thema. Ich werde versuchen, sie zu sortieren und in einem Text zusammenzufassen, den wir an den Anfang setzen können. Den Anfang der öffentlichen Forderung nach Aufnahme von Games in den offiziellen kulturkritischen Diskurs. Die Forderung danach, dass deutsche Feuilleton-Redakteure entweder aufwachen und sich beteiligen – oder auf dem Müllhaufen der Kulturgeschichte landen. Die Forderung, dass jegliche Diskussion um Gewalt in Games im Rahmen einer systematischen und ehrlichen Kulturkritik zu erfolgen hat. Und die Forderung, dass sich die Branche in ihrer Gesamtheit dieser Herausforderung und der damit verbundenen Verantwortung dann auch intellektuell und institutionell stellt.
Oder vielleicht nehmen wir Gamer und Vollzeitnerds uns einfach nicht so wichtig, als dass wir uns darüber echauffieren müssten.
Das hat nichts mit „uns“ wichtig nehmen zu tun, sondern damit, ob man den kulturellen Diskurs für wichtig hält (und das tue ich).
Und ein kultureller Diskurs, in dem die mit weitem Abstand am meisten genutzte Kunstform nicht vorkommt, ist von vornherein korrumpiert.
Guter Aufschrei. Ja, seit dem Treffen bei der Quo Vadis sammele ich Gedanken für ein Manifest und ab Oktober habe ich dann endlich Ruhe etwas aufzuarbeiten das lesbar sein wird.
Bist Du in Köln? Lass uns mal treffen!
Hallo Wolfgang,
ich bin der Tobi, Jahrgang 79 und somit echtes Kind der 80er und 90er! Als solches habe ich meinen Amiga 500 echt geliebt und wahrscheinlich jedes damals nur ansatzweise wichtiges Spiel gezockt, sei es Lotus 1 bis 3, Monkey Island, Maniac Mansion, Turrican 1 und 2, Xenon, Speedball 2, und und und! Für Ambermoon (dessen Karton – inkl. Stoffkarte – stolz in meinem Bücherregal steht) habe ich mir sogar ein Zweitlaufwerk gekauft (leider war das Spiel delbst damit aufgrund der zahllosen Diskettenwechsel unspielbar, wenn man nicht die Musik ausgeschaltet hat). So gesehen gehöre ich zu 100% zu den Zielgruppe für eine solche Veröffentlichung!
Und was habe ich damit gemacht? Ich habe die Demo von Xmas-Lemmings angeworfen, mich 10 Minuten über die coole alte Mucke gefreut und das Ding dann ausgemacht.
Deshalb meine Frage an Dich:
Wie viel Zeit hast Du denn bisher mit diesem „sagenhaften Kulturschatz“ verbracht?
Ich frage deshalb, weil ich selbst in Hardcore-Zockerkreisen die Erfahrung gemacht hab, dass diese Veröffentlichung eher kleine Wellen erzeugt hat.
Der Grund? Keine Ahnung, aber ich tippe mal darauf, dass es der selbe ist, der der „Freundin“ schon vor 25 Jahren das Kreuz gebrochen hat: Raubkopien! Es ist ja jetzt nicht so, dass all die angebotenen Spiele und Demos vorher nicht verfügar waren. In diesem Fall wäre die News wohl wie eine Bombe eingeschlagen. Aber das Gegenteil ist der Fall: einschlägige Seiten bieten seit Jahren, nein Jahrzehnten, die Diskimages der Amiga-Ära zum Download an.
Einmal runtergeladen kann ich die dann mit nem Emulator spielen und zwar mit den Einstellungen, die mir gefallen. Egal ob Auflösung, Sound oder Eingabegeräte: der Emulator bot mir immer das peferkte Amiga-Erlebnis. Warum also sollte ich mich mit so einem Crappy-Browser-Emulator rumschlagen, der gefühlt nur jedes dritte Spiel halbwegs korrekt wiedergibt?
Jeder, der auch nur anatzweise Interesse am Amiga hat, kann also schon seit Jahren die Spiele bequem zu Hause zocken. Zwar illegal, aber das ist doch denjenigen, die damals Spiele auf’m Schulhof getauscht haben (und wer war das nicht?) vollkommen gleichgültig!
So gesehen gibt es eigentlich doch keine Zielgruppe für einen solchen „Kunstschatz“. Die Spiele waren immer schon verfügbar!
Mal abgesehen davon, dass die Sammlung bei weitem nicht vollständig ist. Neben einigen echten Perlen ist der Großteil der angebotenen Software einfach nur Crap. Alter PD-Kram, den eigentlich noch nie jemanden interessiert hat (siehe „F*ck her Brains Out 6“). Von einer definitiven, hochqualitativen, umfassenden Sammlung der wichtigsten Spiele (wie ich sie mir gewünscht hätte) kann deshalb leider auch nicht die Rede sein.
Ich wünschte mir eine Neuauflage, wie es Nintendo gerade mit dem NES Classic gemacht hat. Ein Stück Hardware, gerne also geschlossenes System, welches mir meine wichtigsten Spiele einfach und unkompliziert zu Verfügung stellt (die bisherigen Versuche mit dem Competition Pro waren leider nix).
Achja: mittlerweile ist der Browser-Amiga auch schon wieder offline! Vielleicht wird es ja was in der Neuauflage!
Es geht ja in der Hauptsache gar nicht darum, dass die Spiele für alle ehemaligen Amiga-Jünger jetzt wieder zugreifbar sind, sondern dass sie eben als Historie eines neuen, DES Mediums überhaupt begriffen werden können. Es geht darum, Spielen einen gewissen Stellenwert zu zu gestehen, der über „lustiger Zeitvertreib“ hinaus geht. Das ist quasi wie mit einem Museum. Dort liegen auch Fauskeile hinter Glas, für jedermann zugänglich, obwohl doch längst alle Anthropologen Nachbildungen in ihrem Keller liegen haben.