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Ethik als Spielmechanik#2 – Ethik und Moral als Konfliktparteien

(Dies ist die zweite Folge einer kleinen Artikelserie über die Frage, wie man sich Ethik als Spielmechanismus verfügbar machen kann. Nachdem die Serie auch in überarbeiteter Fassung in der Printversion der Making Games und dann, ins Englische übersetzt, auf deren Webseite erschienen ist, habe ich die ursprünglichen Fassungen auch hier mit den überarbeiteten ersetzt. Zum ersten Teil geht es hier. Zum dritten hier.)

Nachdem ich in der ersten Folge aufgezeigt habe, warum es nützlich sein kann und möglich sein sollte, ethische Konflikte als Sonderfall der Spielmechanik zu begreifen (und dann konsequenterweise auch als solche zu benutzen), stellt sich natürlich die Frage, wie man diese ethischen Konflikte erzeugt und, in einem dritten Schritt, wie man diese Konflikte dann schlussendlich in Spielmechanik umwandelt.

Hierzu wird es notwendig sein, die Natur dieser ethischen Konflikte zu begreifen, die dahinter liegende Psychologie genauer anzuschauen und sie dann auf ihr Transportmittel abzubilden: die Narration. Erst wenn es gelingt, die ethischen Konflikte sauber in die Narration des Spiels zu integrieren, können diese die notwendige Präzision, Präsenz und Dringlichkeit bekommen, die das player subject (dies ist der rein mentale Avatar im Kopf des Spielers – siehe Teil 1) erfahren muss, um sie als Teil des Spielerlebnisses und der Spielherausforderung zu begreifen.

Um die weiteren Schritte auf diesem Weg ohne Stolpern hinzubekommen, muss ich aber erst einmal ein Begriffspaar definieren, das ich in diesem Kontext durchaus als gegensätzlich verstanden sehen möchte, obwohl es im Alltag gerne synonym benutzt wird. Für das Folgende bitte ich aber zu beachten, dass Ethik und Moral eben nicht dasselbe meinen.

Ethik bleibt in diesem Zusammenhang definiert, wie ich es im ersten Teil bereits aus der Wikipedia zitiert habe. Sie ist also “jener Teilbereich der Philosophie, der sich mit den Voraussetzungen und Kriterien rationalen menschlichen Handelns befasst. Im Zentrum der Ethik steht das spezifisch moralische Handeln, insbesondere hinsichtlich seiner Begründbarkeit und Reflexion” (Hervorhebung von mir). Ethik findet ihre Ratio dabei meist und in der Hauptsache in den sozioökonomischen Bedingungen einer Gesellschaft, ist also nie allgemein gültig.

Moral meint in diesem Zusammenhang die Regeln, die sich eine Gesellschaft oder ein Individuum selbst gegeben hat, ohne dabei notwendigerweise rationalen Erwägungen gefolgt zu sein. Die moralischen Regeln können rationalen Begründungen standhalten, können aber ebenso aus veralteten Traditionen oder den Machtinteressen einer herrschenden Gruppe herrühren und würden einer ernsthaften ethischen Prüfung vielleicht sofort zum Opfer fallen.

Folgt man dieser Definition, wird man schwerlich eine Gesellschaft finden, in der Ethik und Moral deckungsgleich sind. Dies gilt für die reale wie für fiktionale Welten. Machtinteressen, Wirtschaftsinteressen, Religion und anderes können und werden nicht-ethischen Einfluss auf das Moralsystem haben. Und dasselbe wird für die allermeisten Individuen zutreffen: Kaum ein Mensch ist in der Lage, seinen moralischen Ansprüchen genüge zu leisten. Wieviel weniger wird er also angesichts seiner persönlichen Interessenlage einer rational begründeten Ethik Folge leisten können.

Es gibt also wenige Gründe, im Spiel eine Gegenwelt zu erschaffen, in der Ethik und Moral deckungsgleich sind. Aus narrativer Sicht wäre dies sogar furchtbar, weil es einerseits ein riesiges, narrativ nutzbares Konfliktfeld zuschütten und andererseits die Gegenwelt vollkommen unglaubwürdig machen würde.

Womit eines der ersten Ziele meiner Definition schon mal erreicht ist: Wir haben durch die Trennung von Ethik und Moral bereits einen Raum für Konflikte geschaffen (bzw. nicht von vornherein zerstört). Konflikte zwischen der Moral einer Gesellschaft oder einem ihrer Individuen einerseits und dem ethisch Richtigen andererseits waren und sind schon immer einer der wichtigsten Rohstoffe für große Erzählungen gewesen. Diese Konflikte können zwischen unterschiedlichen Charakteren innerhalb einer Narration aufreißen – oder sich in einem einzigen Charakter abspielen: die Erwartungen der Familie behindern die Sehnsüchte des Einzelnen, die außerdem gegen das von diesem als ethisch richtig Erkannte verstoßen.

Angewandt auf die Gegenwelt des Spiels und die Ergebnisse des ersten Teils meiner kleinen Reihe ergibt sich also eine ganze Anzahl potenzieller Spannungsfelder:

  • Zwischen den persönlichen Interessen und/oder der Moral eines Einzelnen und der Ethik der Gegenwelt als rational nachprüfbarem Regelsystem
  • Zwischen den persönlichen Interessen und/oder der Moral bzw. Ethik eines Einzelnen und der Moral der Gegenwelt als – teilweise –nicht rational begründbarem, sozialem Regelsystem
  • Zwischen Ethik und der Moral der Gegenwelt
  • Zwischen der Ethik eines einzelnen Charakters innerhalb dieser Gegenwelt (wieder vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Umstände) und seiner eigenen Moral

Alle diese Konflikte liegen innerhalb der Gegenwelt des Spiels. Aber es gibt noch einen weiteren, für den das nicht gilt. Dieser Konflikt existiert zwischen dem Spieler und seiner Repräsentanz im Spiel:

  • Zwischen der Ethik und/oder Moral des Spielers, der Ethik und/oder Moral des player subjects sowie der Ethik und/oder Moral des Spielercharakters

Und natürlich ist auch jede Kombination möglich. Wichtig ist nur, dass die von uns aufgerissenen Konflikte glaubwürdig und gleichzeitig nicht banal lösbar sind – und bei der Narrativierung des Spiels auch beachtet und nicht übersehen werden. Darüber hinaus sollte uns auch bewusst sein: In diesem Spannungsfeld können Konflikte vom Spieler nicht nur als ethische, sondern auch als spielerische Herausforderung begriffen werden. Dazu muss der Designer aber natürlich für den ethischen Konflikt auch einen spielerischen Ausdruck finden.

Dabei ist es eine sichere Wette anzunehmen, dass die meisten Spieler versuchen werden, ihre eigene, persönliche Moral so weit wie möglich innerhalb der Gegenwelt durchzusetzen. Für uns als Gamedesigner ist es also ein zusätzlicher Grund zu wissen, für welchen Spielertyp wir das Spiel entwickeln.

Wenn ich also sowohl meine Spieler als auch die Gegenwelt kenne, und wenn ich in letzterer nicht nur optisch für Konsistenz gesorgt habe, sondern auch kulturell und geistesgeschichtlich, dann ergeben sich automatisch narrative Konfliktpotenziale zwischen verschiedensten Entitäten nicht nur innerhalb meiner Spielwelt, sondern auch zwischen Spieler, player subject, player character und Spielwelt. Dieses Potenzial kann ich als Game- und Narrative Designer natürlich gezielt aufbauen und unterstützen, um den Spieler in ein ethisches Dilemma zu stürzen. Denn der wahre Gamedesigner muss ganz tief in seinem Herzen auch ein Sadist sein.

Laut Sellmaier [1] sind es drei Aspekte, die ein ethisches Dilemma ausmachen:

  • Das Fehlen einer eindeutigen Handlungsanweisung: Dem Spieler wird nicht gesagt, welche Entscheidung von ihm erwartet wird. (Dieser Punkt wird im dritten Teil der Serie noch sehr wichtig werden.)
  • Die nächste Entscheidung mündet notwendigerweise in ethisches Versagen: Egal, wie der Spieler sich entscheidet, er wird ein ethisches Prinzip verletzen.[2] Egal welche Entscheidung der Spieler trifft, sie führt immer zu Schuld und Reue über das, was er getan hat.[3]
  • Drittens muss die Entscheidungsfindung unter Zeitdruck stehen: Nichtentscheiden hat noch schlimmere Konsequenzen als die möglichen Handlungsoptionen.

“Töte entweder deine Geliebte oder deinen Sohn, sonst beginnt in 60 Sekunden der thermonukleare Weltuntergang”, wäre ein solches ethisches Dilemma (wenn auch eines aus dem Werkzeugkasten für schweres Gerät). Es gibt keinen guten Ausweg, und die schlimmste Lösung wäre die, gar nichts zu tun.

Aber natürlich weist ein solches narratives Element allein noch keine spielmechanischen Eigenschaften auf. Auch ist das ethische Dilemma der Kunstform Computerspiel kaum unbekannt. Man kann noch nicht einmal behaupten, dass es eine Blüte wäre, die nur auf dem besonderen Humus der Indieszene gediehe. Mainstreamtitel wie GTA, Mass Effect und sogar Call of Duty (man erinnere sich an die Kontroverse um die Flughafenszene) haben erfolgreich mit ethischen Dilemmata gearbeitet.

Bevor ich mich aber auf den Weg mache zu erläutern, wie genau aus ethischen Konflikten Spielmechanik entstehen kann, muss ich noch ein Konzept in die Runde werfen und erläutern, das man beinahe als eine Grundvoraussetzung guter Narration betrachten kann: Heuristik.

Wo er geht und steht betreibt der Mensch Heuristik, sprich: Er versucht aus unvollständigen Informationen und in begrenzter Zeit gute Annahmen über die Wirklichkeit zu treffen. Dies ist spätestens seit Ödipus ein bedeutendes erzählerisches Mittel: Entscheidungen, die zunächst rational und ethisch erscheinen, können, wenn sich ihre zugrunde liegenden Informationen als unvollständig erweisen, später, im Lichte vollständiger Informationen, irrational und damit unethisch werden und furchtbare Folgen zeitigen. Wobei die Heuristik selbst keine Methode der Narration ist. Narration nutzt nur den natürlichen Instinkt der Menschen aus, Informationslücken per Extrapolation zu füllen. Ohne diesen Instinkt hätte der Mensch als Spezies wahrscheinlich nicht überlebt. Er ist sogar ein ziemlich guter Heuristiker. Das sorgt ja gerade für das freudige Überraschungsmoment, wenn ein guter Plot-Twist gelingt.

Und noch schöner: Weil wir Menschen geborene Heuristiker sind, gehen wir auch bei anderen Menschen (oder intelligenten Aliens) von heuristischem Denken aus. Wenn wir beim Lesen, Zuschauen oder Spielen einer Geschichte also merken, dass unser Held ein paar entscheidende Informationen weniger hat als wir, dann erzeugt das Spannung. Wenn wir könnten, wir würden unseren Helden vor der Falle warnen, die sich vor ihm unbemerkt auftut.

Das Konzept funktioniert auch umgekehrt: Der Held hat ein paar Informationen mehr und tut deshalb Dinge, die uns unverständlich sind, die uns an ihm zweifeln lassen. Eventuell sogar an seiner ethischen Integrität. Oder es funktioniert als Herrschaftswissen, das vom Autor vor dem Spieler und seinem Charakter zurückgehalten wird, während gleichzeitig schon eine folgenschwere Entscheidung von ihm verlangt wird, die dieses Wissen eigentlich als Entscheidungsgrundlage benötigt.

Wir können also beim Konstruieren der ethischen Konflikte auch noch die kognitive Diskrepanz zwischen Gegenwelt, einzelnen Charakteren in dieser Welt, unserer Heldenfigur und dem Spieler/player subject hinzunehmen (beide haben den gleichen Wissensstand, können ihn aber durchaus unterschiedlich beurteilen): Beim Spielen von Bioshock ahnte ich zwar, dass Atlas es nicht gut mit mir meint. Aber ich folgte ihm, weil mir ja eh wenig anderes übrig blieb und ließ mich eine Weile von dem Umstand blenden, dass mir zum Beispiel die Entscheidung über das Leben der Little Sisters überlassen wurde. Die kleine Freiheit schien die Hoffnung zu ratifizieren, dass ich auch die große hatte – bis sich dann herausstellte, dass mein Charakter letzten Endes die ganze Zeit fremdgesteuert wurde, ohne es zu ahnen (Ich ahnte es, mein player subject wollte es bei gleichem Wissenstand nicht wissen – und der player character schien vollkommen naiv gewesen zu sein). Mein durch Erfahrung gewitztes Wissen als Spieler war dem des player character voraus – aber meinem player subject war es gelungen, der Täuschung zu erliegen und das Wissen des Spielers so weit zu verdrängen, dass es sich während des Spiels nicht durchsetzen konnte.

Marie-Laure Ryans “Possible World Theory”[4] unterteilt die möglichen Konflikte innerhalb einer Gegenwelt noch feiner, und ich begnüge mich hier mit einem Schaubild. Es möge jeder selbst entscheiden, inwieweit er seine Storys mit der ganz feinen Nadel strickt. Es ist aber nie schlecht, noch mehr Werkzeuge zu kennen, und in jedem Fall ist das Konzept hilfreich, um im Zweifelsfall analysieren zu können, woran es möglicherweise liegt, dass eine Story nicht funktioniert.

Possible Worlds Theory

“The relations”, schreibt Ryan, “among the worlds of the narrative system are not static, but change from state to state. The plot is the trace left by the movement of these worlds within the textual universe” (a.a.o., p. 119). Hinzuzufügen wäre nur, dass in einem Computerspiel das Bild noch die zusätzliche Dimension des Eingreifens von außen durch den Spieler mittels seinems player subject erhält.

Wir sehen also: Die Räume für ethische Konflikte sind da, und sie sind meilenweit offen. Und unsere Kunstform hat in den vergangenen Jahren bei den narrativen Werkzeugen sehr dazugelernt. Auch an denen liegt es also nicht. Wir müssen die Werkzeuge nur nutzen und die Freiräume für ethische Dilemmata in der Narration des Spiels füllen.

Der nächste Schritt wäre dann also, aus der narrativen Abbildung der ethischen Dilemmata im Spiel und der Wirkung, die diese im Spieler erzeugen, eine Rückkopplung zu entwickeln, die dann tatsächlich in die Spielmechanik eingreift. Hierbei ist weniger an die rein formale Spielmechanik gedacht, wie sie in den Regeln des Codes entwickelt wird, sondern von einer Spielmechanik, die streng narrative Ursachen hat, also aus der Kraft der Erzählung den Spieler zu spielerischen (im Gegensatz zu narrativen) Entscheidungen treibt; Entscheidungen, die im Zweifelsfall sogar seinen eigenen Interessen in Bezug auf das Spielziel zuwiderlaufen können.

Wir versuchen also, den Spieler an einen Punkt zu bringen, an dem er aus ethischen Erwägungen heraus nicht mehr den effektivsten Weg des Spiels wählt, nicht mehr die Entscheidungen, die ihm spielmechanisch den größten Vorteil bringen, sondern die von ihm persönlich als ethisch richtig empfundenen. Diesen Anlauf werde ich dann im dritten Teil der Serie wagen.

Hier geht’s weiter zu Teil 3.

[1] Sellmaier, Stephan: Ethik der Konflikte. Stuttgart, 2008

[2] Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung. München, 2003. S. 18ff.

[3] Railton, Peter: The diversity of moral dilemma. In: Mason, H. E. (Hg.): Moral dilemmas and moral theory. New York, Oxford, 1996. S. 144-160.

[4] Ryan, Marie-Laure: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory, Bloomington: Indiana UP, 1991

 

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