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Der ethische Avatar

Anmerkung 8.5.2016: Dieser Blogpost wurde aufgrund der anschließenden Diskussion (siehe Kommentare, aber auch auf Facebook) und offenbar vorliegender Unklarheiten noch an einigen wenigen Stellen ergänzt und umformuliert. Ich bedanke mich herzlich für das Feedback!

Keine Angst! Es geht nicht um Spiele mit politischer Agenda. Es geht nicht um Spiele mit einer politisch korrekten Botschaft. Es geht nicht um Feminismus, Rassismus, Klimakatastrophe, Flüchtlinge oder welche politischen Probleme noch in Spielen verarbeitet werden können. Es geht um gute Games. Und um gut erzählte Games.

Unterschreitet ein Spiel einen bestimmten Abstraktionsgrad und erreicht Realitätsnähe, dann macht ein ethischer Avatar das Game schlichtweg besser. Er erfordert allerdings auch erhebliche Anpassungen im Produktionsprozess, möglicherweise im Team-Aufbau und ganz sicher im Design-Verständnis des Game Design-Teams. Er sollte als normativer Bestandteil des Games unbedingt in die Spielvision integriert werden. Und jeder im Team sollte wissen, was das bedeutet: Wir haben einen ethischen Avatar. Der ethische Avatar wird, einmal als Designziel formuliert, Design-Prämisse. Ein bisschen Ethik geht nicht. Und der ethische Avatar ändert alles.

Aber vielleicht sollte ich doch erst mal erklären, was ein „ethischer Avatar“ überhaupt ist – und warum ich diesen Begriff gerne eingeführt sähe.

Wenn ich im Folgenden vom „ethischen Avatar“ rede, dann meint dies einen Spielercharakter, der über die grundsätzliche Fähigkeit verfügt, innerhalb der Spielwelt einen freien, vom player subject ausgehenden, Willen entfalten zu können. Diese grundsätzliche Fähigkeit darf nicht damit verwechselt werden, dass der Spieler diesen Willen dann auch tatsächlich entfalten kann – oder dass hier gar einem Design, in dem der Spieler alles machen kann, das Wort geredet wird. Um Letzteres geht es hier überhaupt nicht.

Für die freie Willensentfaltung gilt, dass ihr die Spielwelt selbst massive und unüberwindliche Hindernisse entgegensetzen kann, wie es zum Beispiel in Papers, Please! oder Spec Ops – The Line geschieht. Diese Beschränkung der spielerischen Möglichkeiten aus der Spielwelt heraus ist nicht schädlich für den ethischen Avatar. Häufig sogar wird sie zu einem sehr starken emotionalen Instrument des Game Designs – wenn sie überzeugend ist und aus der Welt heraus verständlich. Ein Verlust von Freiheit wird ja erst dann wirksam, wenn er auch als Verlust begriffen wird.

Oben erwähntes „player subject“  kann man sich als eine Art mentalen Avatar im Spielerhirn vorstellen. Ein Wesen, das eben nicht der Spieler ist – und deshalb die Freiheit besitzt Dinge zu tun, die der echte Mensch im Leben nie tun würde. Dieses player subject ist die Wurzel der „grundsätzlichen Fähigkeit“ des Avatars, einen freien Willen in der Spielwelt zu entfalten.Ohne freien Willen aber, dies ist evident, kann es gar keine ethischen Entscheidungen geben – und diese sind es, welche aus einem deterministischen Roboter ein aus moralischer Vernunft agierendes Wesen machen. Dieser freie Wille allerdings wäre reine ludische Masturbation, wenn er in die Spielwelt nicht auch wieder hineinwirken könnte. Denn was nützt die ethische Entscheidung, wenn sie in ihrem eigenen Einflussbereich, dem Spiel, keine Konsequenzen hat. Eine Spielwelt, in der ich Leben nehmen oder schonen kann, die aber auf diese Entscheidungen nicht oder indifferent reagiert, verhindert einen „ethischen Avatar“.

Der ethische Avatar wird, einmal als Designziel formuliert, Design-Prämisse

Aus diesen einführenden Punkten ergibt sich, dass der ethische Avatar keine politische Forderung an das Spiel selbst ist, vorgebracht von besorgten Eltern, Lehrern, Politikern oder Bürgern, um das Spiel in der Freiheit seiner Kunst zu beschränken. Der ethische Avatar ist im Gegensatz eine ästhetische Forderung an das Spiel mit dem Ziel, ihm Freiheitsräume aufzuschließen, die der Kunstform heute oft noch aus falscher Angst vor einer echten Kontroverse verbaut werden. Wie ich noch zeigen werde, hat er viel mehr mit dem Schritt von Mono nach Stereo bei der Schallplattenproduktion zu tun als – um bildlich in der Branche zu bleiben – mit der Politisierung der Popmusik durch Bob Dylan.

Dabei bin ich mir im Klaren, dass ästhetische Positionen immer auch politische sind. Eine unpolitische Ästhetik, die sich ja selbst willentlich aus dem öffentlichen Diskurs ausschlösse, brauchte von diesem auch nicht wahrgenommen oder ernsthaft diskutiert zu werden. Wobei die Frage hier zumindest gestellt werden soll, ob es so etwas wie eine unpolitische Ästhetik überhaupt geben kann. Die ersten Jahrzehnte des Computerspiels zeichneten sich ja gerade dadurch aus, dass die selbst gewählte Pose des Unpolitischen die Vergewaltigung durch den politischen Raum beförderte – und somit in schönster dialektischer Bewegung die unpolitische Ästhetik vielleicht die – wenn auch unfreiwillig – politischste überhaupt war.

Die Ethik des Avatars ist also als ästhetische Entscheidung auch immer politisch, und das gilt vor allem dann, wenn ich mich gegen einen ethischen Avatar entscheide, wie man es wahrscheinlich den The Division-Machern unterstellen kann. Politisch ist diese Entscheidung aber nicht nur im öffentlichen Raum der realen Welt. Der ethische Avatar verbreitet seine Wirkung – siehe oben – vor allem auch im politischen Raum der virtuellen Welt, in der sich seine Datenrepräsentation bewegt. Und hier ist seine politische Existenz in der Lage etwas zu erzeugen, was uns als Game Designern sehr am Herzen liegt: Das Gefühl des Spielers, wirkmächtig zu sein. Was er tut erhält durch die Möglichkeit und Wirksamkeit der Ethik in der Spielwelt mehr Bedeutung als nur ein weiterer Level, der von Gegnern befreit wurde. Die Reaktion der Welt liefert Bestätigung und Emotionen – und als Resultat narrative Experience ganz ohne großes, häufig ungelenk den Spielfluss störendes Plotdesign und das damit oft notwendig werdende Hollywood-Blingbling.

Jetzt reicht es allerdings nicht, dass sich die Umwelt ein paar Verhaltensweisen des Spielercharakters merkt und mit ein paar Kommentaren darauf reagiert. Dies hilft sicher der Immersion und ist besser als nichts. Aber wenn diese Kommentare folgenlos im Orkus der Spielmechanik verschwinden, dann merkt der Spieler das sehr schnell – und wird sie bald ignorieren. Was der Spieler dagegen nicht ignorieren kann: Wenn die Weltreaktion bedeutet, dass das Spiel auch innerhalb seiner Mechanik reagiert – und der Avatar in eine Feedbackschleife aus Aktion, Weltreaktion, Mechanikreaktion und neuer Herausforderung gerät, der er ja wieder mit einer Aktion begegnen muss. Und weil die Weltreaktion einen Eingriff in die Spielmechanik bedeutet, kann auch die mechanische Reaktion das narrative Element der Weltreaktion weitertragen – und im Zweifelsfall sogar die daraus resultierende neue Herausforderung. (Das geht natürlich auch umgekehrt: es ist durchaus möglich, dass eine durch den Spieler getriggerte mechanische Reaktion in zweiter Instanz eine Weltreaktion hervorbringt, die dann wiederum eine neue mechanische hervorrufen kann etc.)

Als Resultat ist die Wucht des Narrativen ungleich größer, weil sie aus gleich drei verschiedenen Richtungen kommt (siehe Bild 1): als klassisches Narrativ aus der Welt, als im guten Fall (dazu weiter unten mehr) mechanisch nachvollziehbare Reaktion auf die Weltveränderung aus dem Spiel – und vielleicht sogar als aus der Weltveränderung geborene neue Herausforderung an den Spieler.

Wie man dem Bild leicht entnehmen kann: Es geht beim ethischen wie beim nicht-ethischen Avatar nicht nur um eine Definition des Heldencharakters, sondern um die Definition dessen, wie er in die ihn umgebende Welt eingebunden wird. Es geht um den Zusammenhang in dem er steht mit einerseits der Spielwelt, aber auch der Spielmechanik und sogar den Herausforderungen, welche das Spiel an ihn stellt. Der ethische Avatar ist vor allem durch eine viel tiefgreifendere Eingebundenheit in all diese Zusammenhänge gekennzeichnet, wobei die Interaktion zwischen Spielwelt und Spielmechanik als Reaktion auf den Spielerinput entscheidend bleibt. Und diese tiefe Eingebundenheit ist eine relativ neue Entwicklung. Allerdings nicht so neu, wie manche glauben.

Es war natürlich nicht allein eine bewusste Entscheidung für das Unpolitische, welche die Interaktion zwischen Welt und Mechanik früher häufig verhindert hat. Es gab technische Restriktionen – und natürlich muss eine neue Kunstform sich auch erst einmal ihrer selbst und vor allem ihrer Möglichkeiten gewahr werden. Beide Gründe existieren heute nicht mehr. Wir können alles darstellen, was wir wollen, bis hin in feinste facial reactions von Charakteren – und allerspätestens mit dem originalen Pathologic war schon 2005 der Beweis erbracht, dass es für ein Spielsystem möglich ist, eine komplexe Gesellschaft sowohl narrativ als auch spielmechanisch auf Spielerhandlungen sinnvoll und in narrativer Phronese reagieren zu lassen.

Der nicht-ethische Avatar unterschlägt dem Spieler zwei von drei narrativen Ebenen

Dass Pathologic ausgemachten Kunstwillen besaß, den natürlich nicht jedes Spiel haben muss, tut dabei gar nichts zur Sache. Entscheidend ist, dass unsere Wahrnehmung von Spielwelten sich geändert hat. Die Entschuldigung, dass es halt nur eine Spielwelt sei und die nun mal zu grobschlächtig, um eine eigene Ethik vertreten und verteidigen zu können, verfängt schon lange nicht mehr. Heute gilt: eine realitätsnah gestaltete Spielwelt, die keine Ethik zu verteidigen hat, wirkt seltsam, kalt, unbefriedigend – und nagt am Spielspaß (siehe Bild 2). Dafür gibt es Gründe, die sofort einsichtig werden, wenn man sich das obige Schaubild vorstellt – und die Interaktion zwischen Spielwelt und Spielmechanik weglässt; eine Designentscheidung, die den ethischen Avatar sofort zum nicht-ethischen reduziert:

 

NonEthicalAvatar
Bild 2: Der nicht-ethische Avatar

Da der Austausch zwischen Weltreaktion und Spielmechanik ausfällt, kann sich das narrative Element der Weltreaktion nicht in die Mechanik übertragen. Welt und Mechanik werden als getrennte Entitäten verwaltet. Die Folgen auf der einen Seite greifen nicht in das Räderwerk der anderen. Spielmechanisch bleibt alles in einem Kontext, der so tut, als hätte sich in der Welt durch den Spielereingriff nicht wirklich etwas verändert. Narrativ wurde vielleicht eine Kulisse hochgezogen, welche eine Änderung behauptet: ein potemkinsches Dorf der Selbstwirksamkeit, das dem Spieler vorgaukeln soll, wichtig zu sein. Denn die Welt kann diese narrative Ebene ja nicht an die Spielmechanik weiterreichen, und schon gar nicht kann sie bis in die Herausforderungen weiterwirken.

Schlimmstenfalls erzählen Mechanik und Herausforderungen dem Spieler übrigens doch noch so einiges. Beziehungsweise: Das tun sie eigentlich immer. Bloß mit der Spielwelt hat das dann im Zweifelsfall gar nichts mehr zu tun, und die gefürchtete ludo-narrative Dissonanz kreischt dem Spieler die Ohren voll. Viele Designer halten aus diesem Grund auch die narrative Ebene, die aus der Weltreaktion auf den Spieler zurückfällt, an der kurzen Leine. Das ist legitim, und bei einem dezidiert nicht-ethischen Avatar sogar zu empfehlen.

Aber Designer (oder Produzenten … oder Publisher) haben, aus Gründen, die ich im nächsten Absatz erläutern werde, in dieser Frage heute nur noch sehr eingeschränkt überhaupt die Möglichkeit, sich gegen einen ethischen Avatar zu entscheiden: Parameter für die Wichtigkeit eines ethischen Avatars sind heute nämlich nicht mehr die Technologie, das Genre oder die Thematik des Games. Parameter ist in der Hauptsache der Abstraktionsgrad der Weltdarstellung im Spiel. Sehr verkürzt: Dass Candy Crush keinen ethischen Avatar braucht liegt nicht daran, dass es ein schlichtes Spiel ist. Es liegt daran, dass die Gesetzmäßigkeiten seiner Spielwelt zu abstrakt sind, um ethische Wirkmächtigkeit entfalten zu können. Seine ästhetischen Ebenen erzeugen keinen sinnvollen sozio-ökonomischen Zusammenhang, auf dem sich Ethik erst entfalten kann. Das macht es, nebenbei bemerkt, nicht zu einem schlechteren Spiel. Nur zu einem, das dem Spieler die Erfahrung der Wirkmächtigkeit gegenüber der Spielwelt nicht bietet, weil dies in diesem Abstraktionsgrad wenig Sinn ergäbe. Ich kann einen Level schlagen – aber nicht die Spielwelt verändern. Wozu auch?

Der ethische Avatar sorgt für einen Paradigmenwechsel im Game Design, der weit bis in die Produktionsabläufe hineinreicht!

Die Frage nach dem Wozu beantwortet sich allerdings bei einer sehr konkret und umfangreich ausmodellierten Spielwelt und einem empathiefähigen Spielercharakter ganz anders. Aus heutiger Sicht erzwingen solche Welten die Entscheidung zu einem ethischen Avatar genau so, wie es nach 1967 auch kein Zurück zur Monoschallplatte mehr gab: Nachdem der Klang einmal im Raum rechts und links unterscheiden gelernt hatte, wollte niemand mehr in die klangliche Nulldimensionalität zurück.

Hier wird es zum weiteren Verständnis notwendig zu erläutern, was unter der Ethik einer Spielwelt überhaupt zu verstehen ist, denn dies ist mitnichten immer nur das Streben nach dem Schönen, Guten, Wahren der platonischen Ideenlehre. Einer tiefergehenden Untersuchung vorgreifend, möchte ich deshalb die Ethik einer Welt als das definieren, was innerhalb der Urteilskraft der Welt das aktuell (also zum aktuellen historischen Zeitpunkt der Gegenwelt) vernünftig Begründete ist. Das macht klar, dass Ethik als System immer abhängig von den gegebenen sozio-ökonomischen Umständen einer Welt ist – und dort von Kultur zu Kultur und abhängig vom ökonomischen Ist variieren kann. Ich habe in einem früheren Blogpost erläutert, wie aus Ethik Moral wird, was der Unterschied zwischen den beiden ist – und wie man die beiden zum Zwecke eines starken Narrativs aufeinanderhetzt.

Im Gegensatz zum nicht-ethischen Avatar tritt der ethische also nicht notwendigerweise in eine Welt, in der von vornherein wesentlich mehr erzählerische Konfliktpotenziale lauern.  Die Welt von The Division bietet massenhaft erzählerische Konfliktpotenziale – und liefert einen weitestgehend nicht-ethischen Avatar ab. Der Unterschied liegt darin, dass der ethische Avatar als Designprämisse sich Mühe gibt, diese erzählerischen Konfliktpotenziale in spielmechanische zu übersetzen (und umgekehrt) – und in der Folge in spielerische Herausforderungen. Die spielmechanischen Einschränkungen, denen ein Spieler dann in manchen Situationen unterliegt, kommen dann aus der narrativierten Spielwelt: aus ihren Gesetzen, Regeln, von ihren Herrschern, sprich: von Mächten, die in dieser Welt wirken. Als player subject unterwerfe ich mich diesen Regeln, aber ich begreife die Unterwerfung als eine unter die Welt, nicht als eine unter die Spielmechanik.

Das Design Team, das sich mit dem Spiel befasst, kann also die so beliebte Abtrennung der Story vom Rest des Game Designs nicht mehr ernsthaft in Erwägung ziehen. Anstatt wie der nicht-ethische Avatar die schon traditionelle Frage zu provozieren: „Was geht uns die Story an?“, sorgt der ethische Avatar für einen Paradigmenwechsel im Game Design, der weit bis in die Produktionsabläufe hineinreicht. Narrative Design und Mechanical Design müssen in einen iterativen Prozess treten, der von der Frage beherrscht wird: Wie kann das eine das andere befruchten? Wie reagiert die Spielwelt auf eine Spielerhandlung – und wie greift diese Handlung wiederum in die offizielle Spielmechanik ein? Wie wird dieser Eingriff so narrativiert, dass der Spieler ihn intuitiv versteht und die eventuell geänderten mechanischen Bedingungen in sein zukünftiges Handeln einfließen lassen kann? Und wie narrativieren sich, in einem weiteren Schritt, daraus entstehende Änderungen der Herausforderungen, denen der Spieler begegnet?

In allen diesen Fragestellungen schält sich nach kurzer Überlegung der zentrale Konflikt des Spiels als entscheidend heraus: Worum geht es in dem Spiel nicht auf seiner narrativierten, sondern auf seiner Spiel-Ressourcen-Ebene? Worum wird gestritten? Was sind die widerstreitenden Strategien? Was kann der Spieler in einer bestimmten Situation tun? Wie ist der Spielverlauf? Welche positiven und negativen Feedbackschleifen gibt es im Balancing? Und wann gilt das Spiel als gewonnen? Die Antworten auf all diese und andere Fragen erklären die nicht-narrative Spielmotivation. Als solche bilden sie die psychologische Ursache für die Spielhandlung. Diese psychologische Ursache kann sehr komplex sein oder sehr einfach. In jedem Fall aber bildet sie ein paar psychologische Grundkonflikte ab, für die C.G. Jung und Jospeh Campbell Namen gefunden haben: die sogenannten Archetypen. Der Mythos mit seinen Strukturen war schon immer das Abbild komplexer psychologischer Problemstellungen, für das die Menschen früher keine Erklärung gefunden haben, weil sie noch nicht wussten, dass es Psychologie überhaupt gibt.

Wir sollten uns allerdings als Erzähler von der vermaledeiten Heldenreise lösen. Wir müssen die nicht erzählen. Das macht – im Umkehrschluss des vorherigen Absatzes – das Spiel von ganz alleine. Denn es erzeugt aus seiner Mechanik heraus genau jenen Ruf zum Abenteuer, dem wir uns als Spieler zu stellen haben. Eine gut ausgearbeitete Mechanik liefert die Weigerung automatisch mit, und ebenso den Mentor und den Herold, die Schwellenhüter, die Innerste Höhle, Gestaltwandler, den Schatten, die Wiedergeburt und all die anderen Archetypen und Stationen, die wir für unsere Erzählung benötigen.

Der ethische Avatar versteht es, nicht-narrative Spielmotivation nicht nur in eine Erzählung zu übersetzen, sondern diese Erzählung selbst wieder wirksam in der Welt werden zu lassen. Seine Handlungen wirken in Narration, Mechanik und Herausforderungen nicht getrennt, sondern rückkoppelnd (Die universelle Wirkmächtigkeit der Avatarhandlungen ist es auch, weswegen ich die psychologische Wahrheit der Bezeichnung „ethischer Avatar“ der mechanischen eines „ethischen Feedbacksystems“ vorziehe). Der ethische Avatar gibt uns mit seinen zahlreichen und folgerichtigen Interaktionsmöglichkeiten alle Werkzeuge an die Hand, die wir benötigen, um die perfekte Narrativierung von Mechanik und Spielwelt abzuliefern.

Wir müssen diese Werkzeuge nur noch erfinden.

7 thoughts on “Der ethische Avatar

  1. Lieber Wolfgang,
    ich glaube auch, dass mit abnehmendem Abstraktionsgrad die Möglichkeit einer Überlagerung durch ethische Narrative zunimmt. Moral ist ein zu zentrales Element im sozialen Normengefüge, um dieses ganz umschiffen zu können.

    Du schreibst, dass diese Moral nur effektiv zum Tragen kommt, wenn der Spieler/Charakter seine Entscheidungen aus freiem Willen treffen kann. Weiter schreibst du, dass dieser Wille nur Sinn macht, wenn er in einer Art Feedback-Schleife Auswirkungen auf die Spielwelt hat (die dann wieder auf den Spieler/Charaker zurückwirkt).
    Ich glaube aber, dass genau hieraus dein nächster Schluss, dass die Forderung nach dem ethischen Avatar keine in erster Linie politische, das Spiel einschränkende, Forderung, sondern eine ästhetische, Freiheiten eröffnende, Forderung sei, ein fehlgeleiteter Schluss ist.

    Der Sinn eines Spiels ist (mitunter) die Simulation und das Erfahren von Konflikten. Dies heisst aber nicht notwendigerweise, dass der Spieler/Charakter dabei einem freien Willen unterliegen muss. Den freien Will muss nur der Spieler als Konsument verkörpern. Indem aber sein Handeln eingeschränkt wird, er fremdbestimmt wird, wird gerade an diesem Freien Willen gerüttelt und im Idealfall die Reflektion ermöglicht. Dass das funktioniert, zeigen Klassiker wie Bioshock (dass sich im Prinzip nur um die Reflektion von Autonomie und Heteronomie dreht) oder auch Papers, please.
    Das Beispiel von The Division ist natürlich hervorragend gewählt, denn tatsächlich versagt das Spiel auf der Ebene der Schaffung von Reflektionsmöglichkeiten des spielerischen Handelns, aber auch der Reflektion der Archäologie des Spiels, d.h. der Frage, wie diese Welt geworden ist, wie sie ist. Hier ist der Spieler ganz Autist, der sich durch eine Blase technokratischer Selbstverbesserung durch das Spiel bewegt.

    Aber, Reflektion ist nicht notwendigerweise etwas, dass aus dem freiheitlichen Willen des Spielers entstehen muss, sondern kann, wie angedeutet, auch bedeuten, dass der Spieler eben nicht freiheitlich handeln kann, dass er demgegenüber, ganz heteronom, gezwungen wird, die Folgen seines Handelns zu ertragen (in einem in zwei Wochen erscheinenden Blogpost von mir schreibe ich, dass man in The Division beispielsweise auch eine Art Trauma-Response erwägen könnte, die den Schrecken des Spiels auch Gewicht verleiht). Das schließt dann eben auch vielfach mit ein, dass der Spieler nicht Herr seiner selbst ist, sondern, eben ganz heteronom, dem Goodwill der Spielwelt unterworfen wird.

    Was mich demnach am meisten stört ist dein Verständnis eines selbstbestimmten Subjektes.
    Ich arbeite gerade mit einer Kollegin an der Idee, eine Prinzipienethik des Spiels, aufbauend auf den prinzipienethischen Ansätzen der Life Sciences, zu formulieren. Diese Prinzipien sind Autonomie, Benevolenz (Wohlwollen), Nonmalefizienz (Nichtschadensgebot) und Gerechtigkeit. Dies sind sog. Prinzipien mittlerer Reichweite, das heisst theoretisch begründet, aber sehr stark in der Praxis verankert. Anhand dieser Prinzipienmatrix lässt sich sehr gut eine Problemsituation in der Medizin verorten und reflektieren. Ich/wir gehen für die Spiele aber von der Relativität dieser Prinzipien aus, denn ein Spiel kann diesen Prinzipien geradezu entgegenstehen und wird es aber gerade deswegen (wenn es gut gemacht ist) schaffen, eine Reflektion über diese Ambivalenzen zu evozieren. Als Subprinzipien oder Handlungsleitlinien dienen zu dieser Evaluation des Ethischen zum einen die Proportionalität (also die Angemessenheit einer Darstellung, einer Handlung etc., zum anderen die hedonistisch orientierte Pleasure in einem epikuräischen Sinn, nämlich, dass dieses Wohlgefallen sowohl Triebbefriedigung im Sinne von Spaß, aber auch Triebbefriedigung durch Lernen bedeuten kann.
    Diese nun dreidimensionale Matrix dient zur Verortung eines ethischen Problems. Ist beispielsweise das extrem eingeschränkte, heteronome Handeln eines Spielers erstens angemessen, zweitens, wie wirkt sich das auf die Pleasure aus? Ist es im Multiplayer eines Spiels vorgesehen, dass ich die Möglichkeit habe, andere Spieler zu foltern? Inwieweit ist dies im Kontext des Spiels angemessen und inwieweit habe ich/hat der andere Spieler etwas davon?
    Dies führt dazu, dass Spielsituationen, weil es eben ein Spiel/ein Ausprobieren von Konflikten ist, nicht notwendigerweise moralisch (unter Umständen wohl aber ethisch) sein MÜSSEN. Diese Matrix ist natürlich eher für analytische Zwecke und nicht als Game Mechanismus gedacht, sie kann aber Entwicklern helfen, sich zu verorten und selbst zu schauen, wie Spielnarrativ und -mechanismus ineinander wirken/bzw, sie kann armen Kulturwissenschaftlern wie mir ein tieferes Verstänis der ludonarrativen Zusammenhänge liefern.

    Um zum Schluss zu kommen: Nach meinem Verständnis ist der Begriff des ethischen Avatars irreführend, denn er impliziert, dass der Spieler einer richtigen Lösung eines Konfliktes folgen können muss, tatsächlich ist aber nach meiner Idee eines relativistischen ethischen Prinzipalismus ™ genau das nicht notwendig. Vielleicht wäre ein nicht auf den Spieler/Charakter reduzierter Begriff, etwa einer „ethischen Feedbackschleife“ zwar abstrakter, würde aber dem Potential von Spielen auch nicht die Türen so versperren, wie es der Begriff des ethischen Avatars tut. Die Hauptsache ist, und da gebe ich dir wieder Recht, dass, zumindest, wenn einem wie in The Division ideologisch-moralische Narrative um die Ohren gehauen werden, es dann Reflektionsmöglichkeiten geben muss.

    Ich hoffe, ich habe nicht zu redundant schwadroniert!
    Arno

    1. Lieber Arno,
      erst einmal vielen Dank für die lange und tiefe Antwort. Ich glaube, wir liegen tatsächlich nicht sehr weit auseinander – und an einigen Punkten, an denen Du mir widersprichst, wird das daran liegen, dass ich im Rahmen des Blogposts einige Dinge nur sehr am Rande oder sogar gar nicht weiter ausgeführt habe. Ich zitiere Dich mal, um das zu belegen und ein paar Erläuterungen nachzuschieben:

      „Dies heisst aber nicht notwendigerweise, dass der Spieler/Charakter dabei einem freien Willen unterliegen muss. Den freien Will muss nur der Spieler als Konsument verkörpern. Indem aber sein Handeln eingeschränkt wird, er fremdbestimmt wird, wird gerade an diesem Freien Willen gerüttelt und im Idealfall die Reflektion ermöglicht. Dass das funktioniert, zeigen Klassiker wie Bioshock (dass sich im Prinzip nur um die Reflektion von Autonomie und Heteronomie dreht) oder auch Papers, please.“

      sowie:

      Aber, Reflektion ist nicht notwendigerweise etwas, dass aus dem freiheitlichen Willen des Spielers entstehen muss, sondern kann, wie angedeutet, auch bedeuten, dass der Spieler eben nicht freiheitlich handeln kann, dass er demgegenüber, ganz heteronom, gezwungen wird, die Folgen seines Handelns zu ertragen

      Dies bezieht sich wohl auf diesen Satz von mir:

      „Wenn ich im Folgenden vom „ethischen Avatar“ rede, dann meint dies einen Spielercharakter, der über die grundsätzliche Fähigkeit verfügt, innerhalb der Spielwelt einen freien, vom player subject ausgehenden, Willen entfalten zu können.“

      Dazu ist anzumerken, dass in Deinem Einwand lediglich zwischen Spieler und Spielercharakter unterschieden wird, während es für meinen Ansatz ziemlich wichtig ist, dass da noch das player subject zwischengeschaltet ist. Ich hatte den Begriff nur verlinkt, weil ich ihn bereits an anderer Stelle näher erläutert hatte. Stell ihn Dir als eine Art mentalen Avatar im Spielerhirn vor, der eben nicht der Spieler ist – und deshalb die Freiheit besitzt Dinge zu tun, die der echte Mensch im Leben nie tun würde. Dieses player subject ist die Wurzel der „grundsätzlichen Fähigkeit“ des Avatars, einen freien Willen in der Spielwelt zu entfalten. Der Avatar muss also grundsätzlich die Fähigkeit haben. Das heißt aber für mich (und eigentlich auch sprachlogisch) nicht, dass er diese Fähigkeit dann auch in der Praxis realiter ausüben kann. Sie kann ihm sogar permanent weggenommen werden. Dieser Verlust wirkt ethisch (und im Spieler) aber nur, wenn er auch als Verlust begriffen wird. Grundsätzlich hat jeder Deutsche das Recht auf Freiheit. In der Praxis gibt es einige Leute, die im Gefängnis sitzen.

      Das bringt mich zu den Gründen, warum diese Freiheit eingeschränkt werden kann, OHNE dass der ethische Avatar deshalb aufgehoben wird: In allen von Dir genannten Beispielen (wobei ich das von Bioshock mutig, aber eher schwach umgesetzt finde. Spec Ops – The Line wäre für mich ein besseres Beispiel) gibt es ein Gameplay, das eigentlich wesentlich mehr Freiheit erlaubte. Die Einschränkungen kommen dann aus der narrativierten Spielwelt: aus ihren Gesetzen, Regeln, von ihren Herrschern, sprich: von Mächten, die in dieser Welt wirken. Als player subject unterwerfe ich mich diesen Regeln, aber ich begreife die Unterwerfung als eine unter die Welt, nicht als eine unter die Spielmechanik. Ich sehe also Deinen Einwand tatsächlich eher als Bestätigung meiner Argumentation, auch wenn ich das in der Genauigkeit in diesem – eh schon zu langen – Blogpost nicht ausgeführt habe. Hätte ich aber wohl tun sollen. Es geht mir also eben NICHT darum, ein voll selbstbestimmtes Subjekt zu behaupten oder zu verlangen. In meiner dreiteiligen Serie zur Ethik in Games (veröffentlicht in Making Games Print und Online sowie in diesem Blog) sollte eigentlich genau DAS herausgekommen sein: Dass der Spieler nicht immer in der Lage sein wird, das Richtige zu tun, dass es sogar sehr effektiv sein kann, ihn in ethische Dilemmata zu stoßen. All das setze ich bei diesem Blogpost voraus, weil ich mich darüber schon lange und ausführlich verbreitet habe (Nein, ich verlange nicht, dass Du das auch gelesen hast! 🙂 Aber vielleicht holst Du es nach, um eher sehen zu können, wie dieser Post einzuordnen ist.) Insofern weise ich auch diesen Satz von Dir zurück:

      Nach meinem Verständnis ist der Begriff des ethischen Avatars irreführend, denn er impliziert, dass der Spieler einer richtigen Lösung eines Konfliktes folgen können muss, tatsächlich ist aber nach meiner Idee eines relativistischen ethischen Prinzipalismus ™ genau das nicht notwendig.

      Natürlich muss der Spieler das nicht können. Das wäre ja furchtbar langweilig! Aber das ändert nichts daran, dass die Hauptdeterminante (für mich nach wie vor) in den von mir konstruierten Zusammenhängen die grundsätzliche (!) Fähigkeit ist, eine ethische Entscheidung zu treffen. Das kann die Entscheidung zwischen Falsch und Furchtbar sein. Das kann die Erkenntnis sein, dass Falsch die einzige verbliebene Handlungsoptioon ist, obwohl man weiß, was richtig wäre (und diese Möglichkeit in einem früheren Zustand der Spielmechanik auch bestand). Da gibt es viele Kombinationen aus möglichen Konflikten und Dilemmata, die alle EINES gemeinsam haben: Sie finden ihren Ausdruck in einer ethisch zu bewertenden Handlung des Avatars. Das ist, wie Du richtig erkannt hast, auch (aber eben nur ein biosschen) eine Konzession ans Marketing. Der ethische Avatar ist halt einfacher zu greifen als die ethische Feedbackschleife … 😉

      Ich hoffe, ich habe nicht zu redundant schwadroniert!

      Kein bisschen. Endlich mal ’ne Antwort, bei der ich eine Weile nachdenken musste, um sie nicht zu verhauen. Eure Matrix (machst Du mit Rudolf, richtig?) interessiert mich sehr. Ich denke nämlich, dass wir viel enger beieinander sind, als Du das siehst. Schau Dir noch mal meine anderen diesbezüglichen Artikel an, dann wird Dir meine Systematik vielleicht klarer. Auch wenn ich bislang keine dreidimensionale Matrix zur Bewertung entwickelt habe: das Konzept ist sehr verlockend!

      Klingt nach einem der Werkzeuge, die ich am Ende meines Posts anmahne … 🙂

      Nochmal vielen Dank für Deinen Einwand!!!

      1. Du hast recht, nun ist vieles klarer und passender – auch wenn ich den Begriff immer noch irgendwie nicht passend finde. Ich hatte den Text tatsächlich gelesen, allerdings bereits vor vielen Wochen, da hatte ich ihn schlicht nicht mehr auf dem Schirm… (hätte viele Mißverständnisse im Kern erledigt, sorry. ABER insofern wären zwei Sätze im Text, was du darunter verstehst sicher hilfreich ;)). Unpassend ist der Begriff aber immer noch, denn der Schwerpunkt der Überlegungen ist ja nicht der Avatar, sondern die Interaktion des Player subjects mit seiner Umwelt. Mir persönlich ist da der Begriff des Avatars zu technizistisch – ich glaube, da wäre man (meinetwegen) mit einem ethischen Player Subjects (mein Fave ist immer noch die ethische Feedbackschleife 😉 ) besser beraten. Ist aber sicher eher neine Geschmackssache als ein wirkliches Problem.
        Was den Prinzipalismus angeht, nein das ist nicht mit Rudolf sondern mit der fantastischen und lieben Gisela Badura-Lotter, einer Bioethikerin und Kollegin von mir. Wir hatten schon vor drei Jahren angefangen uns darüber Gedanken zu machen, es aber lange Zeit beiseite gelegt (aus Zeitgründen) und sind nun seit kurzer Zeit wieder voller Motivation am Nachdenken 🙂

        Übrigens, die Zeitschrift Games and Culture hat derzeit einen Call zu „Morality Play“, da würde dein Text sicher auch gut passen…

        1. Unpassend ist der Begriff aber immer noch, denn der Schwerpunkt der Überlegungen ist ja nicht der Avatar, sondern die Interaktion des Player subjects mit seiner Umwelt.

          Ist vielleicht eine Frage der Perspektive. Ich schreibe ja aus der des Designers und weniger aus der des Rezipienten. Für mich wäre mit den Worten des berühmten Game Designers G. Trappatoni die Frage zentral: Was erlauben Avatar? Das mag technizistisch sein, ist aber für meine Zwecke recht genau der Blickwinkel, auf den es mir ankommt.

          Schriebe ich aus der eines Kulturwissenschaftlers, würde ich auch Einwände erheben. Letzten Endes ist mir das aber egal. Wenn das Konzept (eindeutiger formuliert) der Kunstform weiterhilft, kann es meinetwegen auch „Das große Grmblzmpf!“ heißen.
          Danke für den Games and Culture-Hinweis.

  2. P.S.: ein Beitrag hat mir in jedem Fall auch sehr dabei geholfen zu verstehen, wo mein Blogpost noch einiges von Klarheit und Eindeutigkeit entfernt ist. Auch dafür vielen Dank.

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